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Sommerillusionen

Selten sind Beobachter und Fans des VfB für gewöhnlich so entspannt und optimistisch wie in der Sommerpause. Während keine vermeidbaren Niederlagen und verstolperten Großchancen für Unmut sorgen, aalen wir uns gerne in der Wohlfühloase Saisonvorbereitung und der Verheißung der Neuverpflichtungen. Erinnert euch nur an den Frühsommer 2018 mit Reschkes denkwürdigem Fünferpack Maffeo, Sosa, Kempf, Massimo und Kopacz, dem nur einen Monat später die Transfers von Didavi und Castro folgten. Die anschließende Testspielsiegesserie unter Tayfun Korkut mit dem sensationellen Fallrückziehertor des unbekümmerten Nicolás González, ebenfalls Neuzugang, war wohl der längste Winning Streak der jüngeren Vereinsgeschichte und das vorerst letzte Mal, dass man in Cannstatt das Wort Europa in den Mund nahm. Dann fuhr man nach Mainz und gewann nicht.

Summer of 2020

Wenn ein Popstar sich dazu entscheiden sollte, den diesjährigen Sommer zu besingen, wird es wohl nicht um die „best days of my life“ gehen. Eher um Polizeigewalt oder die zweite Welle. Auch der VfB veranlasst einen derzeit nicht zu Luftsprüngen. Der einzige Narr, der sich darum reißt, ein Lied für die Weiß-Roten zu trällern, heißt Luigi. In einer Woche beginnt die Saisonvorbereitung und die meistdiskutierten Personalien sind zwei Hängepartien. Klare Fälle von der Spieler will, aber der VfB kann nicht. Die Anschubfinanzierung des Ankerinvestors ist nämlich längst versickert, das Ja zum Erfolg bereits mehrfach im Halse steckengeblieben, während sich die Kreditanstalt für Wiederaufbau mit dem Antrag der VfB Stuttgart AG beschäftigt. Der Name der Anstalt weist den Weg: Es gilt wieder aufzubauen, was die Treiber der Ausgliederung und ihre Gehilfen in den Sand gesetzt haben. Dietrich und Reschke haben sich inzwischen als Feindbilder im Umfeld etabliert. Die lange Reihe der Abnicker, die nach wie vor an ihren Posten kleben, werden dagegen überstrahlt von der personifizierten Hoffnung: Hitzlintat.

Team Dietrich vs. Team Hitzlsperger?

Nach der überraschenden Beurlaubung des vor Jahresfrist als Konstante im Trainerteam verpflichteten Rainer Widmayer setzen die Reflexe schnell ein: Er war Dietrichs Mann und stand dem Erneuerungskurs der sportlichen Führung im Weg. So weit, so einfach. Schaut man etwas genauer hin, erkennt man, dass Hitzlsperger seinen erstaunlichen Aufstieg vom Berater des Vorstands zu dessen Vorsitzenden nicht zuletzt dank Dietrich, Gaiser und Porth hinlegen konnte. Auch Mislintat sei vom Sonnenkönig persönlich von einem Engagement am Neckar überzeugt worden, so hört man. Altlasten gibt es also zur Genüge und die schöne Geschichte vom smarten Prinzen, der den maroden Club wieder ans Licht führt, klingt zwar verführerisch, hat mit der Wahrheit aber so wenig gemein wie alle anderen Märchen.

Während Gaisers Interimspräsidentschaft drängten Präsidium und Aufsichtsrat im Oktober 2019 auf die schnelle Besetzung des Vorstandsvorsitzes und verschoben damit die Machtarchitektur im Club nachhaltig zugunsten des CEO, der zurzeit auch noch das Amt des Sportvorstands besetzt. Der von den Mitgliedern gewählte Präsident dagegen bleibt bisher als Chef des Aufsichtsrats blass und winkt die sportlichen Entscheidungen der AG einfach durch. Lange riefen wir nach einem Gegengewicht zur Dominanz eines Wolfgang Dietrich, heute akzeptieren wir, dass Hitzlsperger schalten und walten kann, wie es ihm beliebt. Was angesichts der völlig unterschiedlichen Führungsstile und Charaktere verständlich sein mag, wird zum Problem, wenn man versteht, dass Ämter und Strukturen nicht für einzelne Personen geschaffen werden, sondern in sich eine Ausgewogenheit und Stabilität bieten sollen.     

Kritik, darf man das?

Der neue Boss Hitzlsperger hat mit seinem breiten Aufgabenfeld so viel um die Ohren, zumal in Zeiten der Pandemie, dass er seine Verpflichtungen als Sportvorstand in weiten Teilen dem Sportdirektor übergeben hat. Dazu gehört auch die Öffentlichkeitsarbeit, was dazu führte, dass in den vergangenen Monaten so manche Aussage durch die Medien ging, die sich im Nachhinein als wenig hilfreich erwies. Sobald sich der ehemalige Scout von Borussia Dortmund und Arsenal London angegriffen fühlt, neigt er zu dünnhäutigen Reaktionen.

In dieser Gemengelage scheiden sich nun die Geister: Darf man Mislintat kritisieren, ohne sich gleich der Blasphemie schuldig zu machen? Immerhin ist er Teil des Märchens, das uns als letzter Strohhalm dient. Wenn Hitzlintat das nicht hinkriegen, wer denn dann?

„Wir sind doch aufgestiegen, was gibt es denn da zu mäkeln?“, werfen sich die einen vor die sportliche Führung, während die anderen beginnen, Fragen zu stellen. Unangenehme Fragen. Dabei geht es um Kritikfähigkeit, Kontinuität, den Zustand der Mannschaft, das Nachwuchskonzept und Mislintats Faible für datengestütztes Scouting. Kein Quattrex, nein, keine Wahrheitsbeugung, aber eben schon ein paar Steine des Anstoßes.

Ohne die Protagonisten grundsätzlich in Frage stellen zu wollen, muss eine kritische Reflexion der holprigen Saison, in der viele Pläne der sportlichen Führung nicht aufgingen, erlaubt sein. Nimmt man das Co-Trainer-Karussell an der Mercedesstraße als Gradmesser, hat eine solche Aufarbeitung intern durchaus stattgefunden, allerdings mit Schlussfolgerungen, die nicht jedem sofort einleuchten. Spezialisierung im Trainerstab stand da wohl ganz oben auf der To-Do-Liste.

Wie der Kader, der sich schwerfällig durch die Zweitligastadien quälte, wie eine Mannschaft, die nur selten als verschworene Einheit auftrat, die Herausforderungen der Bundesliga meistern soll, bleibt zumindest mir ein Rätsel. Spätestens, wenn man uns wieder einmal Didavi und Badstuber als Unterschiedsspieler verkaufen will, die eine Mannschaft mitreißen können, wenn es heißt, man müsse die Kaderlücken mit mannschaftlicher Geschlossenheit auffangen, wenn auf die Entwicklungsfähigkeit der jungen Spieler verwiesen wird, klingeln bei mir alle Glocken. Wie oft haben wir das schon gehört? Und wie oft haben sich diese optimistischen Annahmen am Ende nicht erfüllt?

Gedächtnistraining

Person – woman – man – camera –TV. Ihr kennt die Anforderungen an ein wahres Genie. Als VfB-Fan hat man solche Sequenzen natürlich sofort parat: Weinzierl – Dortmund – Hoffenheim – Frankfurt – 0:11. Oder: Bein stellen – Wehen – Kiel – Hamburg – 2:6. Im Hinblick auf die kommende Saison erwarte ich neues Material fürs Gedächtnistraining und habe ansonsten eigentlich nur drei Wünsche: Karawane Cannstatt (egal wann) – Auswärtsblock (möglichst oft) – kein Trainerwechsel im Herbst. Ist das zu viel verlangt?

Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson

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