Allgemein

Viel Talent – wenige Punkte

Seit 2019 ist der Kern dieser Mannschaft zusammen, zu einem Bundesligateam, das Woche für Woche mit der erforderlichen Ernsthaftigkeit und Leistungskonstanz den Wettbewerb bestreitet, ist sie seither nicht gereift. Das Ergebnis ist in der zweiten Saison nacheinander an der Tabelle abzulesen. Es braucht Veränderungen auf verschiedenen Ebenen, um in der kommenden Saison nicht wieder bis zum Schluss zu zittern.

Wataru Endo feiert im Mai 2022 den Klassenerhalt in letzter Sekunde. (Foto: IMAGO/Sven Simon via swr.de)

Patzer als Markenzeichen

Individuelle Fehler ziehen sich durch die Saison und durch die letzten Jahre wie ein roter Faden. Und wie es im Fußball nun einmal ist, wiegen Patzer in der Defensive schwerer als jene, die weiter vorne passieren. Seit Sommer 2021 hat der VfB ein Torwartproblem. Florian Müller und Fabian Bredlow sind zwar angenehme und reflektierte Zeitgenossen, für Sicherheit in der letzten Linie haben sie aber selten gesorgt. Auch die Abwehrkette begünstigte viele einfache Gegentreffer, obwohl einzelne Spieler für einen Klub aus dem unteren Ligadrittel eine bemerkenswerte individuelle Qualität aufweisen.

Damit sind wir schon bei einer der Hauptursachen für die schlechte Punktausbeute: fehlende Konstanz. Gute Spielphasen wechseln sich mit unerklärlich konfusen, manchmal fast teilnahmslosen Auftritten ab. In den wichtigen Spielen gegen direkte Konkurrenten wirkt die Mannschaft gehemmt. Auf Siege folgen in erschreckender Regelmäßigkeit Rückschläge. Das alte VfB-Problem kommt zum Vorschein: Nach Erfolgen – und seien sie noch so klein – gibt man sich mit dem Erreichten zufrieden und stagniert in seiner Entwicklung.

Das Silas-Syndrom

Als Silas Wamangituka – unter diesem Namen ist der junge Kongolese im Sommer 2019 noch bekannt – für 8 Millionen Euro von Paris FC zum VfB wechselt, wird er als Königstransfer für die anstehende Zweitligasaison gefeiert. In 29 Ligaspielen trifft er 7 Mal und bereitet weitere 8 Tore vor. Obwohl sich schnelle Offensivspieler mit seiner dynamischen Spielweise und seinem breiten Lächeln schnell in die Herzen der Fans spielt, ist zu erkennen, dass ihm in taktischer und technischer Hinsicht noch vieles fehlt. Nach einer begeisternden Hinrunde 20/21 verletzt sich der Shootingstar beim Auswärtsspiel in München schwer. Für den Menschen und den Fußballer Silas beginnt eine lange Leidenszeit.

Silas präsentierte sich im Herbst 2020 in Topform. (Foto: Getty Images via fussball.news)

Monatelang sehnen die Verantwortlichen und Fans gleichermaßen seine Rückkehr herbei. Nicht nur für Sven Mislintat ist klar: Sobald der Hoffnungsträger wieder auf dem Platz steht, wird auch die Mannschaft wieder ein anderes Gesicht zeigen. Im Nachhinein eine Fehleinschätzung. Denn erstens hat Silas seither nicht mehr zu der Form aus dem Herbst 2020 zurückgefunden, und zweitens beginnen sich die Gegner auf seine Spielweise einzustellen. Es stellt sich als schwierig heraus, eine Rolle für ihn zu finden, in der seine Stärken zur Geltung kommen und seine Schwächen kompensiert werden.

Die Liste der „tollen Jungs“, denen große Sympathie entgegenschlägt, die auch teilweise vielversprechende Ansätze zeigen, sich aber bis heute nicht so richtig im Profifußball zurechtfinden, lässt sich ohne Weiteres verlängern. Tanguy Coulibaly zum Beispiel tauchte bei seinen Einwechslungen zuletzt immer wieder auf dem Score-Board auf, welche Funktion er aber mittelfristig im Team ausfüllen soll, weiß niemand so richtig. Für einen ernsthaften Startelfkandidaten weist er auch nach vier Jahren Ausbildungszeit noch zu viele taktische Defizite auf. Das Experiment mit Coulibaly als Schienenspieler bricht Matarazzo Ende 2021 ab. In der abgelaufenen Saison kommt der 22-jährige Franzose auf 14 Einwechslungen als Außen- oder Halbstürmer, aber keinen einzigen Startelfeinsatz. Angesichts eines für einen Ergänzungsspieler relativ hohen Gehalts ist es daher nachvollziehbar, dass Wohlgemuth nicht bereit ist, dem Talent aus der PSG-Jugendakademie einen neuen Vertrag anzubieten.

Tanguy Coulibaly kommt im Sommer 2019 als 18-Jähriger zum VfB. (Foto: SID via eurosport.de)

Schaut man auf die Aufstellungen, die Matarazzo und Hoeneß in der heißen Phase des Abstiegskampfs wählten, fällt auf, dass zuverlässige und mannschaftsdienliche Spieler den Vorzug vor individuell vermeintlich stärkeren Einzelkönnern erhielten. Natürlich braucht der VfB auch künftig das Unberechenbare und Geniale von Spielern wie Silas, diszipliniertes taktisches Verhalten und Engagement im Spiel gegen den Ball sind im Profifußball aber Grundlagen, die den Erfolg der Mannschaft maßgeblich beeinflussen.

Eine Saison voller Fehleinschätzungen

Die wundersame Rettung im letzten Saisonspiel der Saison 21/22 sollte die Initialzündung für eine erfolgreiche Zukunft sein. Doch heute wissen wir, dass die Saisonanalyse die grundlegenden Probleme nicht lösen konnte. Trainer und Sportdirektor hatten wohl unterschiedliche Vorstellungen, wie die Mannschaft zu stabilisieren sei. Bevor die Zusammenarbeit schließlich im Oktober endet, manifestiert sich eine weitere Fehleinschätzung in der völlig missglückten Pressekonferenz zur Vorstellung der neuen sportlichen Berater des Vorstands. Alexander Wehrle ist zu der Einsicht gelangt, dass die sportliche Expertise im Klub von außen ergänzt werden müsse. Zum Zeitpunkt dieses offenen Misstrauensvotums ist die neue Saison gerade einmal ein paar Wochen alt.

Der Sportvorstand und sein Sportdirektor finden seitdem nicht mehr zusammen. Zu unterschiedlich sind nicht nur ihre Ansätze bei Trainerwahl und Kaderzusammenstellung sondern auch ihre Vision, wie sich der Klub zukünftig entwickeln soll. Der VfB erstarrt von Anfang Oktober bis Ende November in der gegenseitigen Blockade der beiden Alphatiere. Wehrle versucht dennoch bis zum Schluss den Anschein zu wahren, dass er die Zusammenarbeit mit Mislintat gerne fortgesetzt hätte. In Wirklichkeit manövriert sein ungeschickter Umgang mit der seit langem im Raum stehenden Vertragsverlängerung den Klub in eine gefährliche Lage.  

Eine weitere fehlgeschlagene Analyse leitet Anfang Dezember die nächste Durststrecke ein: Bruno Labbadia ist der Ansicht, dass die Mannschaft mit mehr Disziplin, besseren körperlichen Grundlagen und einem 4-3-3 als festem Gerüst in die Erfolgsspur zurückfinden würde. Die erfahrenen Profis Haraguchi und Dias sowie eine auf Kontrolle ausgelegte Spielweise sollten die notwendigen Punkte für den Klassenerhalt bringen. Nach nur 12 Spielen scheitern der sturmerprobte Trainer und sein Team krachend.

Lehren aus der Saison

Viele Experten sind sich einig, dass der VfB grundsätzlich über genügend Substanz und Qualität verfügt, um die Klasse ohne Nervenkitzel zu halten. Hausgemachte Probleme führen aber wieder einmal dazu, dass das Saisonziel erst in der Relegation erreicht wird. Was kann der Klub aus seinen Fehlern lernen?

1. Wichtige Personalfragen sind vor der Saison zu klären.

Die Frage der Vertragsverlängerung mit Mislintat hätte noch vor Saisonbeginn entschieden werden müssen. Durch das Aufschieben dieser wichtigen Personalentscheidung entsteht eine Unruhe, die sich die ganze Spielzeit über nicht mehr legt. Nicht zuletzt deshalb kommt es zu drei Trainerwechseln und weiterer Verunsicherung. Auch den Kalajdzic-Transfer hätte man besser früher abgewickelt, um mit dem Nachfolger bereits in die Saisonvorbereitung zu gehen.

2. Externe Berater ersetzen keine funktionierenden Strukturen

In den ersten Monaten seiner Amtszeit sieht sich Sportvorstand Wehrle einem meinungsstarken, mit weitgehenden Befugnissen ausgestatteten Sportdirektor gegenüber. Der Versuch, die fehlende Kompetenz über externe Berater einzukaufen, geht schief. Wer bei weitreichenden Entscheidungen mitspricht, muss dafür die Verantwortung übernehmen. Auch für die Kommunikation nach außen ist es unerlässlich, dass die Entscheider ihre Maßnahmen glaubhaft erklären können. Der Bereich Sport ist unter Wehrle zu einer Black-Box geworden.

3. Der Trainer muss in erster Linie zur Mannschaft passen.

Die Verpflichtung von Labbadia beruhte auf der Einschätzung, dass der erfahrene Coach in Stuttgart das wiederholen würde, was er bei früheren Stationen unter Beweis gestellt hat. Die Vita eines Trainers garantiert aber keine Erfolge. Hoeneß gelingt die Wende, weil er einen guten Draht zur Mannschaft findet und ihre Stärken wieder zur Geltung bringt. Im Abstiegskampf hatte der 41-Jährige zuvor noch überhaupt keine Erfahrung vorzuweisen.

4. Die Mischung im Kader muss stimmen.

Im Kader mögen Talent, Geschwindigkeit und individuelle Qualität ausreichend vorhanden sein – Konstanz, Widerstandsfähigkeit und taktische Reife fehlen. Transfers dieser Art sind sicher weniger spektakulär und versprechen keinen hohen Wiederverkaufswert, sie sorgen aber für mehr Stabilität in der Mannschaft.

Außerdem muss die zweite Reihe in der Lage sein, einen Stammspieler bundesligareif zu ersetzen. Pfeiffer, Perea und Kastanaras konnten Guirassys Ausfall nicht einmal ansatzweise kompensieren. Auch auf der Ersatzbank braucht es Spieler mit Bundesligaerfahrung.

Zum Weiterlesen und Weiterhören:

Podcast VfB Stuttgart – Zeitungsverlag Waiblingen (zvw.de)

Wataru Endo: Herz und Hirn des VfB – Vertikalpass

In den Abgrund geschaut – Rund um den Brustring

Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson

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