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Millot erlegt den HSV

Nach dem Spiel sinken die ganz in Schwarz gekleideten Gäste auf den Rasen des ausverkauften Volksparks. Die 97 Minuten in Hamburg, die lange Saison, der inzwischen zwei Jahre andauernde Abstiegskampf haben ihnen körperlich und mental alles abverlangt. Für überschwänglichen Jubel gibt es keinen Grund.

Der VfB nutzt die Fehler des Zweitligisten und setzt sich in den beiden Relegationsspielen verdient durch. So einseitig wie die Ergebnisse auf dem Papier aussehen, ist das Duell der beiden Traditionsvereine aber nicht verlaufen. Noch zur Halbzeit zittert der weiß-rote Anhang wie Espenlaub.

Die Mannschaft feiert mit ihren Fans nach dem Spiel den Klassenerhalt. (Pressefoto Baumann/Hansjürgen Britsch)

Partycrasher

In der 5. Minute passiert nämlich das, was nicht passieren durfte. Dompé macht auf der linken Seite mit Mavropanos, was er will, spielt halbrechts Kittel an, der den Ball aus zwanzig Metern unbedrängt neben den Pfosten hämmert. Da ist sie wieder, die Stuttarter Schlafmützigkeit, die so schon so viele Punkte in dieser Saison gekostet hat. Auch wenn der VfB in der Folge besser ins Spiel findet und in der 17. Minute sogar ein Abseitstor erzielt, ist der HSV dabei, sich mit einer couragierten Leistung wieder in das Relegationsduell zurückzukämpfen. Eine furiose Aufholjagd erscheint zur Pause überhaupt nicht mehr unwahrscheinlich.

Doch kaum haben die Zuschauer wieder ihre Plätze eingenommen, crasht das 1:1 die blau-schwarze Party. Der eingewechselte Zagadou gewinnt zwei Kopfballduelle an der Mittellinie, Karazor leitet weiter zu Endo, der Guirassy mit einem geistesgegenwärtigen Schnittstellenball freispielt. Ein Querpass zum freistehenden Millot, der Fernandes mit etwas Glück überwinden kann, senkt den schwäbischen Puls endlich. Dem Team von Tim Walter fehlen jetzt wieder drei Tore zum Fußballwunder.

Enzo Millot staubt zum vorentscheidenden 2:1 ab. (IMAGO/Pressefoto Baumann)

Sebastian Hoeneß hat in der Kabine offenbar den richtigen Ton gefunden und mit der Umstellung der Dreierkette die Abwehr stabilisiert. Zu den verrückten Geschichten der Relegation gehört, dass ausgerechnet die beiden besten Akteure des Hinspiels, Mavropanos und Fernandes, vier Tage später einen gebrauchten Tag erwischen. Der griechische Koloss wird auf seiner rechten Abwehrseite phasenweise schwindelig gespielt und steht früh am Rande eines Platzverweises. Der HSV-Torwart ermöglicht mit seinem Stockfehler das vorentscheidende 2:1 durch Doppelpacker Enzo Millot.

Der Doppelpacker

Am Beispiel des 20-jährigen Franzosen lässt sich nachvollziehen, wie schief viele Debatten rund um den VfB zur Zeit ablaufen. Als Sven Mislintat den zentralen Mittelfeldspieler, der aus einem Vorort von Chartres, 90 Kilometer südwestlich von Paris stammt, im Sommer 2021 nach Cannstatt lotst, spielt der ehemalige französische U17-Nationalspieler unter Trainer Kovac in Monaco keine Rolle. Im folgenden Herbst zieht er sich eine Knieverletzung zu und kommt in der Saison 21/22 insgesamt nur auf sechs Kurzeinsätze.

Nach einer guten Sommervorbereitung unter Matarazzo scheint Millot dann der nächste Schritt zu gelingen. Doch aufgrund der prekären sportlichen Situation und der Trainerwechsel verläuft auch seine zweite Saison im Brustring durchwachsen: Bis Sebastian Hoeneß den Trainerposten in Cannstatt übernimmt kommt das Talent aus der Jugendakademie des AS Monaco nur auf vier Startelfeinsätze in der Liga und keinen einzigen Scorerpunkt.

In der Saisonendphase schlägt dann jedoch die Stunde des feinen Technikers: Matchwinner im Pokal in Nürnberg, an der Castroper Straße sein bis dato wohl bestes Spiel im Brustring und nun mit zwei Toren plus Vorlage der Shooting-Star der Relegation. „Legenzo“ – wie der Vertikalpass ihn sogleich adelt – klettert auf den Zaun und heizt dem Auswärtsblock ein.

Haben die vorherigen Trainer seine Begabung verkannt oder ist Millot einfach erst jetzt gereift? Hat Labbadia ihn ungerecht behandelt oder den Leistungssprung sogar aus ihm herausgekitzelt? Ist er der nächste Mislintat-Diamant oder ein exzentrischer Schönwetterspieler? Je nach dem, in welches Lager man hineinhorcht, findet man die unterschiedlichsten Ansichten. Besonders fundiert sind sie meistens nicht.

Lehren aus der Saison

Der Chef der lokalen Sportredaktion führt in seiner Saisonanalyse sieben Fehler auf, die sich nicht wiederholen dürfen. Dabei teilt er gleichermaßen gegen die Mannschaft, die sportliche Leitung, den Vorstand, die Vereinsgremien und den Aufsichtsrat aus und erteilt monokausalen Erklärungen eine Absage. 

Bei der angekündigten Saisonanalyse gilt es nun zu beachten, dass falsche bzw. nicht wirksam umgesetzte Analysen zu der prekären Situation geführt haben. Weder Mislintat und Matarazzo noch Wohlgemuth und Labbadia waren in der Lage, die Mannschaft auf das richtige Gleis zu führen. Erst Sebastian Hoeneß schaffte mit seiner unaufgeregten Art den Umschwung. 6 Siege und nur 2 Niederlagen unter seiner Führung sprechen eine klare Sprache. Wer soll nun also was analysieren? Wer gibt künftig die Richtung vor? Wer kann die gespaltenen Fanlager wieder vereinen?

Der VfB darf nicht den Bock zum Gärtner machen. Der Vorstandsvorsitzende selbst hat nämlich mit falschen Entscheidungen und schweren Managementfehlern nicht unerheblich zur Misere beigetragen. Darüber hinaus wirkt Wehrle in seinem öffentlichen Auftreten abgehoben und selbstgerecht. Dem Aufsichtsrat kommt die Aufgabe zu, die Arbeit des Vorstands zu bewerten. Ob aber ausgerechnet diejenigen, die den Nachfolger von Thomas Hitzlsperger selbst berufen haben, dazu geeignet sind, ein objektives Urteil zu fällen, darf man bezweifeln.

Eine neue Kultur

Um unbelastet in die Zukunft gehen zu können, ist es wenig hilfreich, wenn jede Entscheidung in Bezug zum ehemaligen Sportdirektor gesetzt wird. Der Mislintat-Komplex lähmt den Klub, obwohl der Westfale längst bei Ajax Amsterdam angeheuert hat. Diesem Thema möchte ich in den nächsten Tagen einen eigenen Text widmen.

Neben den Problemen im operativen Geschäft hängt auch im Verein sein längerer Zeit der Haussegen schief. Präsident Vogt ist im Laufe der Amtszeit seine größte Stärke abhanden gekommen: mit den verschiedensten Leuten auf Augenhöhe zu reden und sie mitzunehmen. Die vereinsinterne Opposition bekleckert sich ebenfalls nicht mit Ruhm. Anonyme Leaks aus dem höchsten Vereinsgremium, schlecht begründete Abwahlanträge ohne Zukunftsvision, mehr Gegeneinander als Miteinander – all das wirft vor der im September anstehenden Mitgliederversammlung viele Fragen auf.

Nach dem Kraftakt der Relegation stehen dem VfB also weitere richtungsweisende Wochen ins Haus. Die Ausgangslage ist dabei genauso kritisch wie die sportliche Situation während dieser verkorksten Saison. Sicher ist, dass der Prozess nur dann zum Wohl des Klubs und seiner Mitglieder verlaufen wird, wenn alle Seiten bereit sind, verbal und emotional abzurüsten und sich auf das Verbindende zu fokussieren. Dirk Preiss liegt wohl richtig, wenn er in seinem Kommentar nicht weniger als eine neue Kultur beim VfB fordert.

Hamburger SV – VfB Stuttgart 1:3

Zum Weiterlesen:

VfB Stuttgart: Gerade noch mal gut gegangen – diese Fehler darf der VfB nicht wiederholen (stuttgarter-nachrichten.de)

Kommentar zur Rettung: VfB braucht viel mehr Sein als Schein – kicker

Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson

Ein Kommentar

  • fritzo62

    Guter Kommentar, vor allem legt er den Fokus auf die Annahme , dass keiner der Personen per se etwas böses tat oder plant. Jeder hat den VfB im Herzen, auch ein BL, AW oder SM oder oder. Wenn alle vor allem verbal abrüsten, das verbindende betonen und ausloten, was jeder in seiner Verantwortung für den VfB bringen kann, gelingt das unglaubliche und die Summe wird größer als die der einzelnen. Das gilt auch für einfache Mitglieder und Fans. Der HSV hat uns das gestern gezeigt, wie geschlossen man die Raute im Herzen hat. Kein Hass im Netz ist ein wesentlicher Schritt.

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