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Tribünengras

Sieben Minuten sind am Millerntor gespielt, als der japanische Wirbelwind Ryo Miyaichi unseren Kapitän mit der Schulter am Kopf trifft. Tatütata, doppelter Kieferbruch. Selbst Gallionsfigur und Interviewliebling Mario Gomez versteht spätestens jetzt, dass es keinen Spaziergang durch diese zweite Liga geben wird. Schon gar nicht hier, nicht heute auf dem holprigen Geläuf des FC St. Pauli, wo es laut Sportdirektor Mislintat „Gras nur auf der Tribüne gibt“.

Anspruch und Wirklichkeit

Aber wir haben doch die besseren Fußballer, den teuersten Kader der Liga, höre ich euch fragen. Nehmen wir einmal Orel Mangala, der gemessen an seiner Eleganz und Ballbehandlung schon heute ein ganz Großer sein müsste. Oder Philipp Klement, der mit seinem feinen linken Füßchen letzte Saison in Paderborn sechzehn Tore erzielte und sieben vorbereitete. Im Duell mit einer leidenschaftlich und diszipliniert kämpfenden Heimelf zeigen die beiden Hochveranlagten, was ihnen noch fehlt: Die Fähigkeit, eine Mannschaft zu führen, dem Spiel auch unter widrigen Umständen Struktur zu geben, es mit ihrer Klasse zu entscheiden. Eben genau die Dominanz, die der neue Trainer von seiner Mannschaft erwartet. Auch ohne den Fetisch von 75 Prozent Ballbesitz.

Rino, der Besonnene

Pellegrino Matarazzo erlebte noch am Mittwochabend ein emotionales Highlight, als er nach Schlusspfiff fast beckenbaueresk über den Rasen der heimischen Arena in Richtung einer hüpfenden Cannstatter Kurve schritt. Forza VfB! Ein Traum für den Trainerneuling. Aber der besonnene Italo-Amerikaner warnt sogleich vor Euphorie, „weil die Schwankungen in Stuttgart extrem sind.“ Er möchte „eine stabilere Linie beibehalten“.

Eine Frage der Qualität?

Die harte Landung auf dem Boden der Tatsachen erfolgt nur drei Tage später. Der Kapitän schwer verletzt, wenig Dominanz und stellenweise wieder das Osnabrück-Sandhausen-Virus: Mangala und Förster verlieren am eigenen Strafraum in Co-Produktion leichtfertig den Ball, Stenzel lässt sich von Miyaichi wie ein Schuljunge foppen, Veermann – Drehung – Tor. In Hamburg ragt kein VfB-Spieler heraus, während manche doch deutlich abfallen. Sosa lässt sich auf der linken Außenbahn von Ohlsson immer wieder abkochen, Förster trifft zu oft die falsche Entscheidung und Klement versteckt sich meistens im Deckungsschatten seiner Gegner.

Auswärts das alte Lied

Muss man Matarazzo vorwerfen, dass er seine Siegerelf gleich auf vier Positionen umstellt? In der neuen Grundordnung mit Dreierkette und zwei offensiv orientierten Außenverteidigern erscheint die Hereinnahme von Sosa und Massimo folgerichtig. Den Verzicht auf die angeschlagenen Didavi und González möchte ich auch nicht kritisieren. Und Mario Gómez rechtfertigt seine Aufstellung mit einem weiteren Treffer ohnehin. Wahrscheinlich liegt der Knackpunkt weniger in der Auf- als der Einstellung. Die Heimmannschaft versprüht einfach mehr Willen und Entschlossenheit und hätte die drei Punkte bei konsequenterer Chancenverwertung durchaus einsacken können. Bei den Weiß-Roten hat man den Eindruck, dass das Strohfeuer der Vertikalität schon wieder erloschen ist und sie in alte Muster zurückfällt.

„Schwäbisches Roulette“

Der von mir geschätzte Redakteur Marko Schumacher formuliert in der Mittwochsausgabe der StZ die Sorge, dass ein unerfahrenes Führungsteam an der Mercedesstraße zu weit ins Risiko gehen könnte. Nach der erneuten Verletzung eines Führungsspielers, der ernüchternden Vorstellung am Millerntor und dem Blick auf die stabil auftretende Konkurrenz fällt es schwer, ihm zu widersprechen. Die sportliche Leitung ist der Überzeugung, dass die Schwächephase der Hinrunde in erster Linie Tim Walter anzukreiden ist. Den Kader hält sie für stark genug, um ohne nennenswerte Verstärkungen in die Restrunde zu gehen. Den Punktverlust beim FC St. Pauli redet man mit Verweis auf die widrigen Bedingungen schön. Mag sein, dass Hitzlsperger und Mislintat mit ihren Einschätzungen richtig liegen und wir uns im Mai in den Armen liegen. Im Glücksspiel ist der Lauf der Kugel allerdings nicht vorhersehbar. Wir werden wohl in den nächsten Monaten noch viel von diesem beruhigenden Tribünengras brauchen.

FC St. Pauli – VfB 1:1

Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson

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