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Wer setzt auf das Mathe-Genie?

Wäre da nicht die allergische Reaktion, die eine Trainerentlassung im Umfeld des VfB inzwischen hervorruft, man würde den Wechsel auf der Trainerbank gar nicht ohne weiteres bemerken. Tim Walter, 44, grauer Bart, 1,92 m wurde über die Feiertage durch Pellegrino Matarazzo, 42, grauer Bart, 1,98 m ersetzt.

Walter reloaded?

Thomas Hitzlsperger formulierte bei Bekanntgabe der Personalie: „Wir wollen kurzfristig erfolgreich sein, unser fußballerisches Profil weiter schärfen und sicherstellen, dass die Tür zur Profimannschaft für unsere Jugendspieler auch in Zukunft offensteht.“ Eine grundsätzliche Abkehr vom Walterball klingt anders.

Matarazzo vertrat zu seiner Anfangszeit in Hoffenheim, wo er die U17 trainierte, folgende Spielphilosophie: „Wir wollen in allen Phasen des Spiels aktiv sein, den Gegner auf dem Platz steuern und das Spiel dominieren.“ Immer „online“ sein,  Spielkontrolle, Dominanz. Generation Nagelsmann sagen manche, ich bevorzuge Fahrgemeinschaft Willig, obwohl unser neuer Coach wohl nicht dazu gehörte.  

Der VfB wagt also eine Fortsetzung des Experiments junger Konzepttrainer. An Stelle des Bruchsaler Vorstadtcowboys nun in der Hauptrolle: ein im Profifußball unbekannter Italo-Amerikaner mit Mathe-Diplom von einer Eliteuniversität.

Kontinuität als neuer Fetisch

Dass diese Rochade nicht gerade Begeisterungsstürme auslöst, verwundert wenig, da uns Trainerwechsel aus bekannten Gründen Oberkante Unterlippe stehen.

„Unterschiedliche Vorstellungen über die Entwicklung“ wurden am Ende einer „intensiven, ergebnisoffenen Analyse“ als Grund für die Trennung von Tim Walter angeführt. Vielleicht ist den Verantwortlichen aufgestoßen, dass alles wunderbar sein sollte, von der Stimmung im Team über die Trainingsleistungen bis zur Dominanz in den Spielen, am Ende aber ein Fußball ohne Esprit und Spaß herauskam. Andere sagen, es ging gar nicht um Ergebnisse oder Entwicklung. Der Sportdirektor habe sich einfach mit seinem Trainer dermaßen überworfen, dass der Riss nicht mehr zu kitten war.

Wie dem auch sei, der Druck auf Mislintat und Hitzlsperger wächst. Die sportliche Führung wird unter Hardcore-Bruddlern jetzt schon angezählt. Dabei heißt doch der neue Fetisch in Cannstatt Kontinuität. Man glaubt nicht mehr an den Mechanismus Trainer raus und fordert stattdessen wahlweise Vorstand oder Mannschaft raus.

Schafft dieser Kader den Aufstieg?

Die VfB-Spieler gelten nämlich als verwöhnt, manche sagen untrainierbar. Es fällt in der Tat schwer, einen Kicker zu benennen, der im letzten halben Jahr ansteigende Form zeigte. Umgekehrt gibt es einige Kandidaten, die an sich selbst den Anspruch stellen, Bundesliga zu spielen, Woche für Woche jedoch Schwierigkeiten haben, eine Klasse tiefer mitzuhalten. Noch einmal wird man den Kader nicht ausmisten können, aber der neue Trainer muss die Sinne dafür schärfen, dass jeder zunächst einmal auf seine eigene Leistung zu schauen hat.

Wie stark muss der Kader im Winter umgebaut werden, um das Saisonziel zu erreichen? Der Abgang der Banda Argentina steht im Raum. Weniger Anspruchsdenken, mehr Tempo über Außen. Der Nachwuchs soll noch näher an die Profimannschaft rücken. Mehr Mut, weniger Quergeschiebe. Die Verpflichtungen des Diamantenauges glänzen noch nicht. Können Karazor, Klement oder Awoudja ihr Potenzial künftig besser ausschöpfen oder sind sie schlicht überschätzt?

Der mit vielen Vorschusslorbeeren angetretene Sportdirektor braucht für die Rückrunde den einen oder anderen Trumpf, der wirklich sticht. Geschwindigkeit und Abschlussstärke könnten dabei nicht schaden.

Harte Nuss für das Greenhorn

Die Verantwortlichen vertrauen auch im zweiten Anlauf einem Neuling. Einerseits erhöhen sie damit noch einmal den Einsatz, andererseits bleiben sie sich selbst treu. Kontinuität im modernen Profifußball bedeutet eben vor allem, eine Strategie zu verfolgen, die unabhängig von einzelnen Personen funktioniert. Diesen Nachweis muss Matarazzo jetzt mit einem fast unveränderten Trainerstab erbringen.

Dabei dürften ihm seine Vorgesetzten geraten haben, in der Kommunikation nach außen etwas bescheidener zu agieren als sein Vorgänger, in der Spielanlage etwas flexibler, bei der Moderation der Befindlichkeiten innerhalb der Mannschaft etwas weitsichtiger und bei der Integration der Nachwuchsspieler etwas konsequenter.

Der große Unbekannte bekommt zunächst 16 Ligapartien plus die Kür im Pokal um zu beweisen, dass er das Zeug für ein immer gnadenloseres Profigeschäft besitzt. Übersteht er Level 1 muss er anschließend ins Haifischbecken Bundesliga. Obwohl die neue sportliche Führung durchaus noch ihre Fangirls und -boys hat, würden wohl die wenigsten eine höhere Summe darauf wetten, dass der studierte Mathematiker im Spätherbst 2020 noch bei uns auf der Bank sitzt.

Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson

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