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Die Handschrift des Trainers

Der VfB Stuttgart und seine Trainer – das ist seit der Meisterschaft 2007 keine Erfolgsgeschichte. Dann kommt Pellegrino Matarazzo, über den an dieser Stelle im September 2022 der Beitrag 1000 Tage erschienen ist. Gut zwei Wochen später musste der sympathische Italo-Amerikaner gehen. Sein Nach-Nachfolger ist erst seit 230 Tagen im Amt und hat trotzdem schon beachtliche Spuren in Bad Cannstatt hinterlassen.

Sebastian Hoeneß gewinnt mit seiner Mannschaft 16 von 25 Spielen in Liga, Pokal und Relegation. Seine durchschnittlich 2,08 Punkte pro Spiel übertrifft nur Willi Entenmann, der im März 1986 Otto Baric ablöste und den VfB mit 8 Siegen aus 12 Spielen noch auf Platz 5 in der Liga und ins Pokalfinale führte. So weit sind wir in dieser Saison noch lange nicht, aber nach dem eindrucksvollen Sieg gegen Dortmund wird es Zeit für eine Würdigung des Trainers, der den VfB wieder zu einer gefürchteten Mannschaft gemacht hat.

Grund zum Jubeln: VfB-Trainer Hoeneß. (Foto: IMAGO/Guido Kirchner)

Das Beste aus zwei Welten

Als sich die sportliche Leitung Anfang April für Sebastian Hoeneß als Nachfolger des gescheiterten Bruno Labbadia entscheidet, sind die wenigsten Fans begeistert: Ein Hoeneß? Einer mit RB, Bayern und Hoffenheim-Vergangenheit? Einer, der bei seiner einzigen Bundesligastation am Ende scheiterte? Besonders viele Identifikationspunkte mit dem neuen Trainer scheint es nicht zu geben – außer der deutschen Meisterschaft mit der VfB-B-Jugend im Jahr 1999 und der Tatsache, dass der legendäre Schwabenpfeil und spätere VfB-Manager sein Vater ist.

Nachdem Sebastians Spielerkarriere früh und unspektakulär endet, beginnt sein Aufstieg als Trainer dank Ralf Rangnick, der seinen ehemaligen Spieler bei der TSG Hoffenheim (damals noch in der Regionalliga) in die Nachwuchsakademie von RB Leipzig holt. In dem Artikel „Das Beste aus zwei Welten“ beschreibt Stefan Rommel, dass Hoeneß aus diesem Lernumfeld und seinen hochkarätigen Hospitationen, unter anderem bei Thomas Tuchel, Pep Guardiola und Huub Stevens, viele wertvolle Erfahrungen mitnimmt.

Schon früh lernt der junge Trainer also von den Großen und wechselt trotz einiger Widerstände im Sommer 2017 zum FC Bayern. Mentor und Vertrauensperson ist dort Hermann Gerland, der Uli Hoeneß letzten Endes davon überzeugt, den Neffen in den Klub zu holen. Der erinnert sich:

„Ich war vier Jahre in Leipzig und hatte das Gefühl, dass ich (…) einen anderen Blickwinkel brauche. Die Trainer bei RB wurden vor allem im Spiel gegen den Ball ausgebildet. Das hat mir sehr viel gebracht, aber ich hatte Lust, auch mal die Gegenseite, nämlich das Spiel mit dem Ball, kennenzulernen.“

Sebastian Hoeneß in einem Interview mit goal.com.

In der Saison 2019/20 wird Sebastian Hoeneß Drittligameister mit der Bayern U23. Zum ersten Mal gelingt einer zweiten Mannschaft dieser Coup – und das auch noch als Aufsteiger. In der 3. Liga setzt der Trainer auf attraktives Kurzpassspiel sowie einen flachen, variablen und teilweise riskanten Aufbau von hinten heraus – das kennen inzwischen auch die VfB-Fans.

Größter Erfolg als Trainer: Drittligameister mit Bayern II. (Foto: Huebner/Kleer via www.imago-images.de/imago images/Jan Huebner)

Von Pep Guardialo schwärmt Hoeneß in einem SZ-Interview von Ende 2019 geradezu und hält die „reingekippten Außenverteidiger, die dann als Sechser spielen“, und die Stärkung des Zentrums beim Gegenpressing für die interessantesten Schachzüge des Großmeisters. Als Alexander Rosen dem unerfahrenen Trainer den Posten in Hoffenheim anbietet, traut ihm das nicht jeder ohne Weiteres zu. Taktik-Experte Constantin Eckner von Spielverlagerung.de gibt zu bedenken, dass Hoeneß nie der große Kommunikator gewesen sei und erst eine gewisse Autorität entwickeln müsse.

„Einen besonderen Lebenslauf hat er nämlich weder als Spieler noch als Trainer vorzuweisen. Und der Nachname interessiert Stars wie Andrej Kramaric nicht.“

Constantin Eckner von spielverlagerung.de

Das Ende seiner Arbeit in Hoffenheim nach neun sieglosen Spielen im Saisonfinale 2021/22 begründet der Entlassene damit, dass es „keinen Konsens über die zukünftige Ausrichtung“ gegeben habe. Vielleicht lag es aber auch an der Gegentorflut und daran, dass der negative Trend den Verantwortlichen Sorgen machte. Nach dem 25. Spieltag hatte die TSG nämlich noch auf einem Champions-League-Platz gelegen.

Dominant und variabel

Die letzten Trainer, die in Stuttgart in taktischer Hinsicht auf sich aufmerksam machten, hießen Walter und Matarazzo. Den einen möchte man heute angesichts seiner präpotenten Sprüche und seiner löchrigen Restverteidigung am liebsten vergessen, der andere spielte vor zwei Wochen mit seiner TSG im Neckarstadion vor. Dabei wurde noch einmal deutlich, dass Hoeneß und Matarazzo unterschiedliche fußballerische Ansätze verfolgen. Während der aktuelle Hoffenheim-Trainer eher auf Umschaltmomente, also auf schnelles, vertikales Spiel nach Ballgewinn setzt, bevorzugt der amtierende VfB-Trainer Spielkontrolle über Ballbesitz. Auch wenn der Überfallfußball beim letzten Duell die Nase vorn hat, freuen sich die VfB-Fans über die taktische Weiterentwicklung ihrer Mannschaft. Den Schritt hin zur Königsdisziplin, zum Tanz mit dem Ball, bei dem der Gegner nur hinterherläuft, hat der in Stuttgart hochgeschätzte 1000-Tage-Trainer nämlich nie geschafft.

Sebastian Hoeneß hat das Repertoire der Mannschaft also erweitert und durch die größere Spielkontrolle auch die notorischen Aussetzer in der Abwehr minimiert. In vielen Saisonspielen wechselt er während der 90 Minuten von Viererkette auf Dreierkette und führt damit spielentscheidende Veränderungen der Statik herbei. Seine taktische Formation ist so flexibel, dass sich die Sportjournalisten nach dem 2:1 gegen Dortmund uneinig sind, ob der VfB denn nun mit Dreier- oder Viererkette gespielt habe. Niklas Füllkrug gibt im Interview zu, dass sie den Gegner anders erwartet hätten. Unter anderem dürfte er damit die Rolle der Schienenspieler Leweling und Mittelstädt gemeint haben, die je nach Spielsituation für Breite sorgen, Lücken reißen oder Überzahl im Mittelfeld herstellen. Die Dominanz der Weiß-Roten mündet am Ende in 634:439 Pässe, 22:5 Torschüsse und einen hochverdienten Heimsieg.

Nicht nur Taktik-Nerds nennen den VfB inzwischen nach Leverkusen und Bayern als drittbeste Ballbesitzmannschaft der Liga und studieren die Einflüsse De Zerbis auf das Stuttgarter Aufbauspiel. Hoeneß hat sich offensichtlich einiges beim italienischen Brighton-Coach abgeschaut: den Gegner locken, vertikal durchs Zentrum in den Druck spielen, klatschen lassen und den Angriff per Schnittstellenpass oder über die Außen abschließen. Die Offensivspieler wechseln dabei häufig ihre Positionen und sind so für den Gegner schwer greifbar.

Nicht nur für Hoeneß ein interessanter Trainer: Roberto De Zerbi. (Foto: getty images)

Gleichzeitig haben die Hoeneß-Schützlinge aber ihre alten Qualitäten nicht vergessen: Beim Ausgleich gegen Dortmund schlägt Ito einen 35-Meter-Diagonalball aus dem Fußgelenk, den Leweling gekonnt verarbeitet und zum Torschützen Undav durchsteckt. Der Siegtreffer entsteht aus Antons Ballgewinn am eigenen Strafraum, vier Sekunden später schickt Enzo Millot Silas mit einem  präzisen Schnittstellenpass in den Strafraum. Diese neue Variabilität macht den VfB auch für Mannschaften aus dem oberen Tabellendrittel gefährlich.

Mehr Sonne als Schatten

Neben der fußballerischen und taktischen Entwicklung der Mannschaft erwartet man von einem Trainer die individuelle Entwicklung der Spieler. Matarazzo sprach einmal davon, dass es bei jungen Talenten sei wie bei Gras. Es wachse nicht schneller, wenn man daran zieht. Und es brauche mal Sonne und mal Schatten, Wasser und manchmal Dünger. Mit anderen Worten ist die Entwicklung des Nachwuchses eine komplexe, hochsensible Angelegenheit, die ein Trainer nicht erzwingen sondern nur moderieren kann.

Und dennoch: Seit Sebastian Hoeneß Trainer beim VfB ist, haben einige Spieler große Entwicklungsschritte gemacht. Chris Führich darf für die Nationalmannschaft debütieren, auch weil er unter Hoeneß gereift ist, seine Entscheidungsfindung und den Abschluss verbessert hat. Und Enzo Millot wird von Thierry Henry zur französischen U21 eingeladen, weil er zu einem stabilen Faktor im VfB-Spiel geworden ist. Nebenbei bringt der Cheftrainer Josha Vagnomann zum Blühen und behält ständig den Nachwuchs aus dem NLZ im Blick. U19-Spieler Luca Raimund schafft auch dank ihm schneller als erwartet den Sprung in den Profikader.

Chris Führich debütiert für die Nationalmannschaft. (Foto: GES Sportfoto)

Besonders interessant im Hinblick auf die Spielerentwicklung ist die gelungene Übersetzung der Saisonanalyse in konkrete Maßnahmen. Daran sind die Vorgänger nämlich noch gescheitert. Gemeinsam mit der sportlichen Leitung fügt Hoeneß dem Ensemble im Sommer die passenden Komponenten hinzu und zeigt vorhandenen Spielern Entwicklungspotenziale auf. So bilden die Neuzugänge Nübel, Stiller und Undav auf Anhieb wichtige Stützen – aber auch Anton, Karazor und Millot schließen Lücken, die durch die namhaften Abgänge entstanden sind. Diese wohlüberlegten Justierungen sind umso bemerkenswerter, als der Cheftrainer zum Zeitpunkt der Saisonanalyse erst seit zwei Monaten im Amt war.

Der Normalo

Wie ein kommender Star wirkt Sebastian Hoeneß nicht, wenn man ihn bei Pressekonferenzen oder Interviews beobachtet. Eigentlich hat er sich seit seiner Zeit als Drittliga-Trainer kaum verändert. Professionell und zurückhaltend tritt der 41-jährige Familienvater in der Öffentlichkeit auf. Während sich der charismatische Jürgen Klopp bei seinem Amtsantritt in Liverpool als „the normal one“ bezeichnete, kommt beim VfB-Trainer keiner auf die Idee, dass es anders sein könnte.

Sebastian Hoeneß als Trainer von Bayern II, Hoffenheim und dem VfB. (Fotos von li. nach re.: imago images/picture point, Christoph Schmidt/dpa, Baumann/Hansjürgen Britsch)

Für den Boulevard fallen bei Hoeneß Junior, anders als bei seinem berühmt-berüchtigten Onkel, keine Geschichten ab. Dass er seit seiner kreativen Pause nach der Hoffenheim-Entlassung wieder volleres Haupthaar trägt, dürfte vielen noch gar nicht aufgefallen sein, da er es meistens mit einer Kappe bedeckt. Weder seine Verwandtschaft zum großen Paten vom Tegernsee noch die Tatsache, dass er Sohn einer VfB-Legende ist, spielen in der Berichterstattung eine nennenswerte Rolle. Sebastian ist einfach Sebastian – und das macht er ziemlich gut.

Vielleicht kommt gerade seine Klarheit und Nüchternheit bei der Mannschaft an. Ohne jede Erfahrung im Abstiegskampf führt er die abgeschlagenen Schwaben im Frühsommer noch zum Klassenerhalt. Zudem beweist er ein Gespür für Fans und Umfeld, als er nach der verpassten Rettung am 34. Spieltag vor der Cannstatter Kurve die Faust ballt und alle auf die Relegation einschwört. Aber Hoeneß ist keiner, der den Mund zu voll nimmt. Eher einer, der nicht groß ankündigt, einen Dreier zu ziehen, sondern es einfach macht.

Topf und Deckel

Die bisherigen Trainerstationen von Sebastian Hoeneß versprühen  – vorsichtig gesagt – nicht die größte Emotionalität. Das ist in Stuttgart völlig anders. Hier darf er mit seiner Mannschaft alle zwei Wochen vor ausverkauftem Haus auftreten, vor einem Publikum, das geradezu nach begeisterndem Fußball lechzt. Man könnte sagen, der VfB und Hoeneß passen perfekt zusammen, weil der eine hat, was dem anderen fehlte.

Der Klub droht nach den Abgängen von Matarazzo und Mislintat von seinem Leitbild des erfrischenden Fußballs abzukommen. Die sportliche Führung versucht es zunächst mit einer Retro-Lösung, um vier Monate später einen NLZ-Trainer zu verpflichten, der sein Handwerk in den Nachwuchsakademien von RB Leipzig und dem FC Bayern gelernt hat. Auf wessen Rat hin diese Entscheidung auch immer getroffen wurde, sie stellt sich im Nachhinein als Glücksgriff heraus. Hoeneß entwickelt die Mannschaft, macht einzelne Spieler besser und pflegt den engen Austausch mit der Nachwuchsabteilung aus voller Überzeugung.

Sebastian Hoeneß geht voran und bewahrt den VfB vor dem Abstieg. (Foto: Imago, Imago Images/RHR-Foto)

Auf der anderen Seite bietet ein Klub wie der von 1893 aus Cannstatt für den jungen Trainer die perfekte Bühne, um seine Stärken einzubringen und sein Profil zu schärfen. Nach Hoffenheim ist Stuttgart erst seine zweite Bundesligastation – zwischendurch war er zehn Monate lang ohne Anstellung. Der VfB stellt für ihn eine Riesenchance dar. Gefragt ist die volle Identifikation mit dem Weg der jungen Wilden, verbunden mit dem Anspruch, wieder eine wettbewerbsfähige Bundesligamannschaft aufzubauen. Zugleich wollen die Erwartungen des Umfelds und der zahlreichen eingefleischten VfB-Fans erfüllt werden. Leidenschaft ist in Bad Cannstatt nicht nur Marketingsprech, sondern wird Woche für Woche lautstark und kreativ in den Stadien der Republik gelebt.

Für all diese Aufgaben braucht es neben sportlicher Kompetenz, geschickter Moderation und einer gefestigten Persönlichkeit auch Sensibilität im Umgang mit den oft noch sehr jungen Menschen. Gut sieben Monate nach Amtsantritt macht Hoeneß den Eindruck, als sei er den gewaltigen Herausforderungen gewachsen.

Der Hoeneß des Jahres

Wenn Max-Jacob Ost im Podcast Rasenfunk dem VfB-Trainer mit einem Schmunzeln den Titel „Hoeneß des Jahres“ verleiht, beginnt man zu verstehen, dass die Auftritte der Brustringträger inzwischen weit über die Region hinaus gewürdigt werden. Da hat sich eine Mannschaft in der Spitzengruppe der Bundesliga festgesetzt, die im Vergleich zu ihren Tabellennachbarn auf so gut wie allen Positionen weniger Qualität aufweist. Zumindest auf dem Papier. Auf dem Platz ist dagegen immer deutlicher die Handschrift des Trainers zu erkennen.

Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson

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