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Vier Thesen zur Saison

Die Faszination des Fußballs liegt in der Spannung und den Emotionen, die er bei den Menschen hervorruft. Am 14. Mai um 17:28 Uhr durfte Bad Cannstatt mal wieder einen dieser unvergesslichen Momente erleben, in dem eine warme Welle des Glücks alle Sorgen und Nöte überspült.

Sogar Uli Hoeneß schaut da neidisch in seine schwäbische Heimat, denn in der Allianz Arena und auf dem Marienplatz gelingt es schon lange nicht mehr, die Leute so tief zu berühren. Im Grunde weiß der Ehrenpräsident des FC Bayern genau, dass es überhaupt nicht wichtig ist, ob der Sieg beim Gerümpelturnier in Kleinkleppersbach, der Klassenerhalt oder der Weltmeistertitel diese Gefühle auslösen. Solange er die Menschen glücklich macht, lebt der Fußball.   

Nach der Party

Doch auf Dauer kann ein Verein nicht nur von Luft und Liebe leben. Nach der großen Party beginnt beim VfB das Aufräumen. Das ausgegebene Ziel ist zwar im letzten Moment noch erreicht worden, aber die Saison hat viele Fragen aufgeworfen, die bei den VfB-Fans zum Teil kontrovers diskutiert werden.

Pellegrino Matarazzo und Sven Mislintat
Trainer und Sportdirektor müssen die richtigen Lehren aus der schwierigen Saison ziehen. (Foto: © IMAGO/Pressefoto Rudel/Robin Rudel)

Manche bezweifeln, dass es überhaupt einen Anlass für Kurskorrekturen gibt. Der Saisonverlauf sei schließlich keine Überraschung, da von vornherein klar war, dass die Mannschaft im zweiten Bundesligajahr nur gegen den Abstieg spielen würde.

Andere sprechen davon, dass sich die sportliche Führung ganz schön verzockt habe. Aufgrund zahlreicher Fehleinschätzungen sei der Kader unausgewogen zusammengestellt und die Spielweise nicht auf die Anforderungen im Abstiegskampf abgestimmt worden.  

Überprüfen wir also vier häufig formulierte Thesen zu den Gründen für die schwierige Saison.

These 1: Die vielen verletzungs- und krankheitsbedingten Ausfälle waren entscheidend für die schwierige Saison.

Dass der VfB vor allem in der Hinrunde überdurchschnittlich viele Ausfälle zu beklagen hatte, zeigen die Auswertungen die Internetseite fussballverletzungen.com ziemlich deutlich. Auf dem Portal Transfermarkt erkennt man in der grafischen Darstellung der Ausfallzeiten, dass nicht nur die Verletzungen von Silas und Kalajdzic schmerzten, sondern auch einige Hoffnungsträger wie Ahamada, Millot, Nartey oder Egloff entscheidend ausgebremst wurden. Doch kann dieses Argument als Erklärung für das insgesamt schwache Abschneiden dienen?

Vergleicht man die Punktausbeute der Hinrunde mit der Rückrunde, bestätigt sich die These zunächst nicht. 17 Punkte und 22:31 Tore stehen 16 Punkten und 19:28 Toren gegenüber. Die Rückkehr der Stammkräfte brachte also nicht den erhofften Schub. Im Gegenteil: So angeschlagen wie in der Rückrunde hat die Mannschaft zuletzt nach der Derby-Niederlage vor zwei Jahren gewirkt. Dass der 19-jährige Leihspieler Tomás auf Anhieb in allen 14 möglichen Spielen zum Einsatz kam, spricht nicht gerade für die offensiven Alternativen im Kader.

Bei allem Verletzungspech darf man auch nicht unterschlagen, dass der VfB von noch größeren Personalsorgen verschont wurde, da Schlüsselspieler wie Anton (29 von 34 Spielen), Mavropanos (31), Sosa (28) und Endo (33) erfreulich selten passen mussten. Gerade im Fall des bulligen Griechen ist diese Konstanz angesichts seiner Verletzungshistorie bemerkenswert.

Besonders empfindlich trafen die Verletzungen den VfB ausgerechnet gegen die direkten Konkurrenten im Kampf gegen den Abstieg. Die Spiele in Augsburg (4:1) und gegen Bielefeld (0:1) kann man im Nachhinein als Knackpunkte der Hinrunde betrachten. In Bayerisch-Schwaben mussten Kempf und Führich verletzungsbedingt ausgewechselt werden, bevor das Spiel kippte. Im Heimspiel gegen die Arminia bildeten Didavi und Massimo ein aus der Not geborenes Sturmduo, das sich an der Hintermannschaft des späteren Absteigers die Zähne ausbiss. Vielleicht hätte man diese wichtigen Spiele in Bestbesetzung nicht verloren.

In der Rückrunde gab es allerdings noch genügend Gelegenheiten, die Saison zum Besseren zu wenden. Nicht nur in Fürth (0:0) und Bielefeld (1:1) ließ die Mannschaft dabei wichtige Punkte liegen, sondern auch gegen Bochum (1:1), im Berliner Olympiastadion (2:0) und in vielen weiteren Partien.

Weder Ausfälle noch die Nachwirkungen der Verletzungen und Corona-Infektionen taugen hier als Erklärung. Das Team scheiterte vielmehr an mangelnder Konzentration, fehlender Durchschlagskraft und einer mentalen Verfassung, die dem nervenaufreibenden Abstiegskampf nicht gewachsen war. In der Analyse dürfen die Verletzungssorgen diese zum Teil hausgemachten Probleme nicht übertünchen.

These 2: Im Kader fehlt Erfahrung, um mit dem Druck im Abstiegskampf umgehen zu können.

Erfahrung wird in der Diskussion oft mit Alter gleichgesetzt. Diese Annahme ist zum einen ziemlich eindimensional, zum anderen standen beim VfB in der abgelaufenen Spielzeit 11 Stammspieler im besten Fuballalter unter Vertrag: Endo (29), Stenzel (26), Anton (25), Karazor (25), Sosa (24), Mangala (24), Kalajdzic (24), Müller (24), Führich (24), Mavropanos (24) und Marmoush (23).  

Hinzu kommt, dass mit Endo, Sosa, Marmoush, Kalajdzic, Mavropanos und Mangala eine ganze Reihe von Spielern bereits internationale Erfahrung bei ihren A-Nationalmannschaften sammeln durften. Auf dem Papier lässt sich die These von der Unerfahrenheit also nicht bestätigen.

Betrachtet man allerdings die Besetzung der Ersatzbank, fällt durchaus auf, dass dem Trainer hier hauptsächlich junge Nachwuchstalente zur Verfügung standen. Sowohl in punkto Reife als auch in Bezug auf ihr Leistungsniveau fiel die zweite Reihe deutlich ab. Während der gesamten Saison kamen zu wenige Impulse von den Einwechselspielern.

Auffällig ist auch, dass mit Didavi (32), Thommy (27) und Förster (27) drei reifere Spieler keine große Rolle spielten. Erfahrung bringt eine Mannschaft eben auch nicht weiter, solange die Spieler – aus welchen Gründen auch immer – keine bundesligatauglichen Leistungen auf den Platz bringen. 

Auch die Tatsache, dass der Mannschaft oft Widerstandsfähigkeit fehlte, muss nicht unbedingt an mangelnder Erfahrung liegen. Aspekte wie Charakter, Willenskraft, Führungsstärke und Gruppendynamik haben auch einen Einfluss. Insgesamt waren die Leistungen über die Saison gesehen einfach nicht ausreichend, um sich von der Konkurrenz im Keller abzusetzen.

An dieser Stelle sollte die Kaderplanung für die kommende Saison ansetzen: Neben Talent und fußballerischen Fähigkeiten sind Resilienz und Wettkampfhärte noch stärker zu gewichten. Nicht umsonst hielten in der Rückrunde Spieler wie Anton, Stenzel und Karazor die Mannschaft zusammen.

These 3: Der Kader ist insgesamt nicht ausgewogen zusammengestellt. Auf einigen Positionen fehlen bundesligataugliche Alternativen.

Beim furiosen 5:1-Auftaktsieg gegen Fürth waren die offensiven Positionen mit Förster, Klimovicz und Al Ghaddioui besetzt. Sankoh, Didavi, Thommy und Klement wurden eingewechselt. Die wenigsten haben da wohl vermutet, dass die Mannschaft schon bald massive Probleme entwickeln würde, Tore zu schießen. Und sicher hat niemand vorausgesehen, dass keiner dieser Spieler im weiteren Saisonverlauf eine nennenswerte Rolle spielen würde. 

Hat die sportliche Führung die Leistungsfähigkeit des Kaders unter dem Eindruck der starken Vorsaison überschätzt? Aus heutiger Sicht muss man zumindest feststellen, dass sich viele Hoffnungen nicht erfüllt haben. Zahlreiche Spieler stagnierten in ihrer Entwicklung oder standen aufgrund von Verletzungen selten zur Verfügung. Gegen Saisonende kamen immer wieder die gleichen 14 oder 15 Akteure zum Einsatz, während andere zwischen Ersatzbank, zweiter Mannschaft und der sportlichen Bedeutungslosigkeit pendelten.

Aber es gibt auch Beispiele für positive Entwicklungen. Hiroki Ito gelang überraschenderweise der Sprung aus der zweiten japanischen Liga auf Bundesliganiveau. Dinos Mavropanos spielte eine bärenstarke Hinrunde und wurde zum anerkannten Leader. Der 18-jährige Alexis Tibidi konnte sich zu Beginn der Rückrunde im Profikader festspielen. Und Atakan Karazor avancierte im Laufe der Saison vom Lückenfüller zu Mister Unverzichtbar.

In der Gesamtbewertung hinterlässt der Kader dennoch einen unrunden Eindruck. Die von Anfang an bestehende Lücke im Angriffszentrum konnte trotz der Verpflichtungen von Marmoush und Faghir nie geschlossen werden und auf den offensiven Mittelfeldpositionen hatte der Trainer nur auf dem Papier eine große Auswahl. Manche Spieler aus der zweiten Reihe verfügen zwar über ein großes Potenzial, sind aber im Hier und Jetzt weit von Bundesliganiveau entfernt.

These 4: Die sportliche Führung gab zwar vor der Saison den Klassenerhalt als einziges Ziel aus, die Mannschaft brauchte aber viel zu lange, um den Abstiegskampf anzunehmen.

Als der FC Augsburg im Hinrundenspiel plötzich anfing zu kratzen und zu beißen, ging der VfB mit 1:4 unter. Von Abstiegskampf war da im VfB-Lager weit und breit noch nichts zu spüren. Selbst nach dem enttäuschenden 0:0 im ersten Rückrundenspiel in Fürth fanden die Verantwortlichen die Leistung der Mannschaft noch ganz okay. Erst in Marbella, verbunden mit der Umstellung auf Viererkette und dem Aussortieren von Spielern, denen offensichtlich die Ernsthaftigkeit fehlte, wurde der Ton verschärft.

In der Bundesliga reicht es aber nicht, einfach ein bisschen mitzuspielen. Gegen fußballerisch unterlegene Gegner unterliefen zu viele Fehler, gegen bissige Teams konnte die Mannschaft kämpferisch nicht mithalten, Punktverluste redete man sich regelmäßig schön. So richtig es war, die öffentliche Erwartungshaltung zu dämpfen, so falsch ist es, den Spielern die Ausreden für mangelhafte Leistungen auf dem Silbertablett zu liefern.

Auch für die kommende Saison ist der Klassenerhalt das einzig realistische Ziel. Und doch dürfen wir erwarten, dass die Mannschaft den Anspruch hat, sich weiter zu entwickeln. Die Ruhe im Umfeld war sicher ein Vorteil für Matarazzos junges Team, aber die Punkte dürfen in Zukunft nicht mehr so großzügig verschenkt werden. Die Gegner müssen wissen, dass ein Wataru Endo ab Spieltag eins am zweiten Pfosten auf den Kopfball lauert. 

Rinos Saisonanalyse

Durchaus bemerkenswert ist die Offenheit, mit der Matarazzo am Freitag in einer Pressekonferenz zu den Ergebnissen der internen Saisonanalyse Stellung nimmt. Mehr Pragmatismus statt Idealismus kündigt er an, im Zweifel Fokus auf den Tageserfolg statt auf die Entwicklung einzelner Spieler. Damit beweist der Cheftrainer seine Fähigkeit zur selbstkritischen Reflektion.

Er kündigt auch eine Veränderung der Kaderstruktur und –größe an, ohne ins Detail zu gehen. Wir dürfen davon ausgehen, dass als Reaktion auf die abgelaufene Saison einige Spieler zumindest leihweise abgegeben werden und mehrere Neuzugänge als Soforthilfe angedacht sind.

Diese Erkenntnisse kommen offensichtlich aus der sportlichen Führung selbst heraus und wurden nicht von geheimnisvollen Hintermännern eingeflüstert. Damit ist denjenigen, die schon lange eine Verschwörung gegen den meinungsstarken Sportdirektor wittern, der Wind aus den Segeln genommen. Die oft geforderte Fehlerkultur hat sich beim VfB womöglich schneller durchgesetzt, als wir es nach dem Abstieg 2019 gedacht hätten.

Der Geist vom 14. Mai

Aus überstandenen Krisen geht man gestärkt hervor. Das gilt hoffentlich auch für den VfB. Der 14. Mai mit all der Begeisterung und Hingabe müsste dem Letzten gezeigt haben, was der Klub in der Stadt, der Region und weit darüber hinaus auslösen kann. Diesen Spirit werden alle, die für den Klub mit dem roten Brustring arbeiten, in die nächste Saison mitnehmen. Wenn der FC Bayern dann seine elfte traurige Meisterschaft hintereinander gewinnt, werden wir für einen heiß erkämpften 15. Platz wieder wie ausgelassene Kinder herumhüpfen. Wie man das bei den Großkopferten findet, ist uns reichlich egal.

Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson

Ein Kommentar

  • Fritz

    Ein weiteres grundlegendes Thema scheint mir hier zu fehlen: die Mannschaft hat keinerlei Entwicklung gezeigt über die Saison hinweg und insbesondere ist kein überzeugendes, vielversprechendes Spielkonzept zu erkennen. Das sind die ureigenen Aufgaben des Trainers

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