Stuttgarter Mysterien
Letzte Saison hätten wir ein solches Spiel wahrscheinlich verloren, lautet nicht zum ersten Mal der Tenor unter den VfB-Fans. Nach Mainz und Köln überwindet ihre Mannschaft wieder alle Widerstände und sichert sich den sechsten Dreier im siebten Saisonspiel. Eine so unverschämt gute Startbilanz, dass die ersten bereits die Qualitätsfrage stellen.
Im Frühjahr waren die größtenteils gleichen Spieler so schlecht, dass der dritte Abstieg in sieben Jahren nur knapp verhindert werden konnte. Ein halbes Jahr später schwimmen die Weiß-Roten auf einer Welle des Erfolgs, Guirassy eilt von Rekord zu Rekord und sogar der Bundestrainer beruft wieder einen VfB-Spieler in seinen Kader. Wie ist das nur möglich?
Fast verwolfsburgt
Ein Gastspiel des Vereins für Leibesübungen aus der Autostadt lässt Fußballfans nirgendwo mit der Zunge schnalzen, aber in Cannstatt hat man spätestens seit vergangener Saison ganz miese Erinnerungen an die Wölfe. Das 2:3 in Wolfsburg leitete das Ende von Pellegrino Matarazzo ein, das 0:1 im Rückspiel bedeutete den Absturz auf Platz 18 und Labbadias vorletzten Auftritt als VfB-Trainer.
Auch dieses Mal tut sich die Hoeneß-Elf lange Zeit schwer gegen den gut sortierten Tabellensiebten. Vor allem über die linke Angriffsseite der Gäste geht es nach Ballgewinn über Maehle und Tomás ganz schnell – zu schnell für den armen Pascal Stenzel. Da sich die Brustringträger in der ersten Hälfte nur eine echte Torchance erarbeiten können, ist der Rückstand leistungsgerecht. Der Matchplan des Trainers geht bis dahin nicht auf.
In der 59. Minute entwischt Thiago Tomás seinem ehemaligen Mannschaftskameraden zum letzten Mal an diesem Nachmittag, denn Sebastian Hoeneß bringt mit Silas und Undav zwei Offensivkräfte und beendet das ungleiche Duell auf der rechten Abwehrseite. Wie schon in Köln geht der Trainer ins Risiko und gibt dem Spiel dadurch neue Impulse. Den Rest erledigen Serhou Guirassy und das brodelnde Stadion fast im Alleingang.
Scho a bissle
Vor der zweiten Länderspielpause lässt sich eine gewisse Euphorie im Ländle nun nicht mehr abstreiten. Der beste Saisonstart aller Zeiten, zum ersten Mal fünf Bundesligasiege hintereinander mit jeweils mindestens zwei Toren Unterschied, der Toptorschütze mit sagenhaften 13 Toren aus sieben Spielen – der Hype ist real, wie die lokale Sportredaktion kommentiert. Ein bisschen Konfetti wie im Dezember 2021 nach 17 Punkten aus 11 Spielen und einem fulminanten Auswärtssieg in Dortmund reicht da nicht mehr aus. Die Spitzenreiter-Spitzenreiter-Rufe und das entsprechende Banner von anno dazumal sind inzwischen fester Bestandteil der Stadionzeremonie geworden. Selbst die Schwaben müssen zugeben, dass es zur Zeit „scho a bissle“ Euphorie gibt. Und das will beim Understatement der notorischen Bruddler wirklich etwas heißen.
Während wir uns also ungläubig die Augen reiben, fragt sich Fußball-Deutschland: Warum trumpfen die Fahrstuhl-Schwaben plötzlich dermaßen auf? Sebastian Hoeneß, lautet die häufigste Antwort. Der Trainer heuerte im April in einer ziemlich prekären Lage an, gewann aus dem Stand seine ersten beiden Spiele und schaffte letztlich den Klassenerhalt. Unter ihm wurde die Mannschaft zu Hause wieder eine Macht, er hat den Glauben an die eigene Stärke wiederbelebt und eine offensiv ausgerichtete Spielidee implementiert.
Alleine kann ein Trainer allerdings nicht viel ausrichten. Der Aufschwung des VfB ist auch an der Entwicklung einzelner Spieler festzumachen. Über die beste Phase in der Karriere des Serhou Guirassy wurde schon genug geschrieben, aber auch der neue Kapitän Waldemar Anton, Neu-Nationalspieler Chris Führich und Bundesliga-Rückkehrer Alexander Nübel präsentieren sich in Bestform. Mit dem Wechsel auf der Torwartposition, der Verpflichtung von Angelo Stiller und der Ergänzung des wankelmütigen Kaders mit belastbaren, sofort wettbewerbsfähigen Kickern ist Sportdirektor Wohlgemuth eine Komposition gelungen, die ihm bei seiner Verpflichtung im November letzten Jahres kaum einer zugetraut hat. Das Wehklagen über das Verlassen des Stuttgarter Wegs ist jedenfalls verstummt.
Das neue Freiburg?
In den letzten Jahren haben sich Mannschaften wie Union Berlin oder der SC Freiburg zu stabilen Bundesligisten entwickelt, die sich im oberen Drittel der Tabelle festsetzen konnten. Die Erfolgsfaktoren: eine homogene Mannschaft ohne große Stars, ein gleichzeitig gewiefter und bodenständiger Trainer sowie ein Aufwind, den nur Siege entfachen können. Im Moment sieht es so aus, als könne der VfB zumindest vorübergehend diese Rolle einnehmen, während seine Vorgänger an der zusätzlichen Belastung des internationalen Wettbewerbs zu knabbern haben.
Natürlich gibt es fußballerische Erklärungen für den phänomenalen Saisonstart der Schwaben – einige davon habe ich oben ja erwähnt – aber im Grunde ist der Höhenflug des seit einer Dekade taumelnden VfB ein ähnlich großes Mysterium wie Stuttgarts öffentlicher Nahverkehr – nur viel unterhaltsamer.
VfB Stuttgart – VfL Wolfsburg 3:1
Zum Weiterlesen:
„I love Stuttgart!“ – Vertikalpass
Unwirklich – Rund um den Brustring
Serhou Guirassy überragt beim VfB Stuttgart: Trainer Hoeneß schwärmt (faz.net)
reybucanero74
Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson