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Verbotene Träume

Eine Woche nach dem Vertikalpass titelt auch die Süddeutsche Zeitung: „So langsam wird es unheimlich“. Gemeint ist die Siegesserie des Vereins für Bewegungsspiele von 1893 und die Trefferquote seines Toptorjägers Serhou Guirassy. Die Verantwortlichen an der Mercedesstraße versuchen, den Ball flach zu halten. Kein öffentliches Statement ohne das Wort „Demut“, gerne ergänzt durch Formulierungen wie „bei sich bleiben“ oder „nicht abheben“.

Doch wer Mitte Oktober schon 18 Punkte gesammelt, nach knapp einem Viertel der Saison also bereits die halbe Miete für den Klassenerhalt eingefahren hat, der kann schon einmal ins Träumen geraten. Erste Sportredaktionen werfen das Tabuwort in den Raum: Ist vielleicht sogar das internationale Geschäft drin?

Tanzen wir anlässlich der zweiten Länderspielpause ein wenig auf dem Drahtseil zwischen griesgrämiger Euphoriebremse und überzogener Erwartungshaltung.

Längst verstaubte Banner haben beim VfB wieder Konjunktur. (Foto: reddit.com, Masoouu)

Glückssträhne oder nachhaltige Entwicklung?

Wann war eigentlich der Moment, als das Pendel umschlug? Von ein paar Freakspielen gegen schlagbare Konkurrenten zu reifen Auftritten einer gewachsenen Mannschaft. Das Heimspiel gegen Freiburg, antworten viele. Einen Europacup-Teilnehmer mit 5:0 aus dem Stadion zu schießen – das ist schon was. Oder war es der Sieg gegen die VW-Werkself? Immerhin wissen Kovac-Mannschaften, wie sie einem weh tun können, und taten das bei ihrem Gastspiel im Neckarstadion auch über weite Strecken. Andere bewerten schon die erste Hälfte in Leipzig als bestandene Reifeprüfung, als der VfB gegen ein Champions-League-Team nicht unverdient vorne lag.

Vielleicht lässt sich die neue Widerstandsfähigkeit aber auch gar nicht an einzelnen Spielen festmachen, sondern eher am Umgang mit schwierigen Situationen auf dem Platz. Die letzten vier Partien standen allesamt phasenweise auf der Kippe, jedes Mal überwand die Hoeneß-Elf die Widrigkeiten und ging als Sieger vom Platz. Noch deutlicher wird die Stabilisierung, wenn man die saisonübergreifende Bilanz des Trainers anschaut: 15 Ligaspiele, davon neun gewonnen und nur zwei verloren. Hinzu kommen jeweils zwei Siege im DFB-Pokal und der Relegation. In der Hoeneß-Tabelle belegt der VfB – haltet euch fest: einen Champions-League-Platz!

Gar nicht so lange her: Sebastian Hoeneß bei der Pk zum Amtsantritt. (Foto: vfb.de)

Der Aufschwung lässt sich an vielen Puzzleteilchen festmachen, die zu dem erfreulichen Gesamtbild führen. Zunächst wäre da die taktische Weiterentwicklung der Mannschaft. In der Spieleröffnung, im Positionsspiel und bezüglich der Variabilität in der Offensive hat der VfB dazugelernt. Auch einzelne Spieler zeigen deutliche Fortschritte: Waldemar Anton blüht als unangefochtener Abwehrchef und neuer Kapitän auf, Atakan Karazor präsentiert sich stabiler und führungsstärker denn je, Enzo Millot hat den Sprung zu einem verlässlichen Bundesligaspieler geschafft und Chris Führich darf dank seiner neuen Zielstrebigkeit sogar zur Nationalelf reisen. Hinzu kommen das fast schon unwirkliche Formhoch des Serhou Guirassy und drei Neue, die das Team zusätzlich verstärken: Alexander Nübel, Angelo Stiller und Deniz Undav. Die insgesamt 13 Pflichtspielsiege unter Sebastian Hoeneß haben der Truppe ein kollektives Selbstvertrauen gegeben, das ihnen auch in schwierigen Phasen Halt gibt.

Polster für die Rückrunde

Bevor die ersten beginnen, Europacup-Auswärtsreisen zu planen, werfen wir lieber einen Blick auf den Spielplan. Mit Leverkusen, Bayern und Dortmund liegen die härtesten Brocken noch vor uns, auch die Auswärtsspiele in Köpenick und Frankfurt sind unangenehm. Von den verbleibenden neun Ligaspielen bis Jahresende wird der VfB alleine aufgrund der Stärke der Kontrahenten sicher das eine oder andere verlieren.

Das Glück, das in den vergangenen Spielzeiten oft fehlte, ist dem VfB zurzeit hold. So waren schwere Verletzungen in Bad Cannstatt zuletzt kaum ein Thema. Aber was wäre, wenn ein Stammspieler für längere Zeit ausfallen sollte? Gerade im zentralen Mittelfeld ist der Kader ziemlich auf Kante genäht. Außerdem wird Serhous Trefferquote nicht ewig so hoch bleiben. Die Gegner werden den VfB anders wahrnehmen und versuchen, die Stärken der Mannschaft zu neutralisieren. Der sensationelle Saisonstart ist auch darauf zurückzuführen, dass einige Spieler momentan an oder über ihrer Leistungsgrenze spielen. Nach der Winterpause wird sich die Startaufstellung freilich alleine aufgrund der Länderspielabstellungen verändern. In Afrika und Asien werden dann nämlich die Kontinental-Meisterschaften ausgetragen.

Er könnte für Guirassy auflaufen: Jovan Milosevic. (Foto: Danny Galm via zvw.de)

Spätestens dann ist der zweite Anzug gefragt. Maxi Mittelstädt wird beweisen müssen, dass er Hiroki Ito ersetzen kann, Deniz Undav und Jovan Milosevic heißen die Alternativen für das Angriffszentrum. Auf Rechtsaußen könnte womöglich die Stunde des fast schon aussortierten Roberto Massimo schlagen, der im Test gegen Wehen-Wiesbaden doppelt traf. Eine ähnliche Siegesserie wie die aktuelle ist im Januar und Februar jedenfalls nicht zu erwarten. Statt jetzt schon von höheren Zielen zu träumen, sollten wir uns an unsere Wünsche vor Saisonbeginn erinnern: eine stinklangweilige Saison im Niemandsland der Tabelle. Das müsste mit den 18 Punkten im Gepäck allemal drin sein.

Wer wird Sportvorstand?

Der sportliche Höhenflug überdeckt momentan die offenen Führungsfragen in der VfB AG. Gerade einmal vier Monate ist es her, dass Vorstandschef Alexander Wehrle im Rahmen der Saisonanalyse zu dem Schluss kam, dass er mit der Doppelfunktion als CEO und Sportvorstand überfordert ist. Der Bereich Sport als Kern der Fußball-AG braucht eine ausgewiesene Fachkraft an seiner Spitze. Das große Ganze im Blick behalten, die langen Linien zeichnen, eine nachhaltige Entwicklung anstoßen – die Stellenbeschreibung klingt nicht gerade banal. Dementsprechend schwierig gestaltet sich die Suche, zumal inzwischen auch der Direktorenposten an der Spitze des Nachwuchsleistungszentrums (NLZ) frei geworden ist.

Obwohl der Aufsichtsrat für die Besetzung der Vorstandsposten zuständig ist, gibt Alexander Wehrle bereits öffentlich die Einschätzung ab, dass er sich eine Beförderung des amtierenden Sportdirektors gut vorstellen könne. Offene Stellen aus dem Kreis der vorhandenen Mitarbeiter aufzufangen, ist grundsätzlich keine schlechte Idee. Beim VfB haben wir in den letzten Jahren aber schmerzhaft erfahren müssen, dass ein Mitarbeiter, der in seinem ursprünglichen Verantwortungsbereich gute Arbeit geleistet hat, nicht automatisch auf der nächsthöheren Hierarchieebene funktioniert. Passt der ehemalige Geschäftsführer Sport der Zweitligisten Holstein Kiel und SC Paderborn wirklich auf das gesuchte Profil? Soll die gleiche personelle Konstellation, die den Klub vergangene Saison fast zum erneuten Abstieg geführt hat, mit neuen Visitenkarten als Hoffnung für die Zukunft geeignet sein?

Nachhaltige Entwicklung ist auch im Profisport nur möglich, wenn die Führungsstruktur passt. Als Beispiel kann die gelungene Neuorientierung des NLZ unter der Leitung von Thomas Krücken dienen. Die von ihm angestoßenen Reformen schlagen jetzt in dem überaus erfolgreichen Saisonstart der Juniorenteams zu Buche. Der neue Sportvorstand muss als eine seiner ersten Amtshandlungen einen geeigneten Nachfolger auswählen und gleichzeitig die mittelfristige Kaderplanung der Lizenzspieler sowie den Aufbau professioneller Strukturen im Frauenfußball vorantreiben. Auch in der öffentlichen Kommunikation sind seit dem Abgang von Sven Mislintat viele Wünsche offen geblieben.

Fabian Wohlgemuth: Seit knapp einem Jahr VfB-Sportdirektor und bald schon Vorstand? (Foto:  Pressefoto Rudel/Robin Rudel/IMAGO)

Im Gesamtblick auf den Klub und im Wissen um die turbulente jüngere Vergangenheit darf man sich von der überraschend guten Platzierung nach sieben Spielen nicht blenden lassen – nicht bei der Festlegung der sportlichen Ziele, und erst recht nicht bei der künftigen personellen Führungsstruktur. Es wäre nicht das erste Mal, dass der VfB versucht, den zweiten Schritt vor dem ersten zu machen, und dabei gehörig auf die Nase fällt.

Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson

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