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Endlich eine Mannschaft

In solchen Momenten erhebt sich selbst die VIP-Tribüne, die Cannstatter Kurve heizt ein, dass man es bis Fellbach hört, die Gegner sind beeindruckt.

Ich spreche von Szenen wie in der 76. Minute im Heimspiel gegen Bayer 04 Leverkusen: Bellarabi foult den quirligen Massimo in der Nähe der Eckfahne. Eben jener Bellarabi, der zuvor schon alles getan hat, um das Publikum mit übertriebener Theatralik und unsportlichem Verhalten gegen sich aufzubringen, greift im folgenden Tête-à-Tête dem VfB-Youngster ins Gesicht und kommt mit der gelben Karte glimpflich davon. Klement zirkelt den anschließenden Freistoß genau auf den Kopf von Zwei-Meter-Mann Kalajdzic. Der Torschrei ertönt aus zehntausenden Kehlen.

Du bist unser Leben, gibst uns so viel.
Olé-olé-olé, olé–olé-olé-olá,
olé-olé-olé wir sind immer für dich da.

Dir läuft irgendetwas Flüssiges den Rücken hinunter und du fühlst: Die Kiste kann hier noch kippen. Der Gegner ist angeknockt. Die Trommeln geben den Rhythmus vor, die Hoffnung auf einen Sieg ist greifbar.

Stimm mit ein, ja spürst du nicht die Kraft?
Die Leidenschaft.
Die Spiele drehen kann, uns allen Freunde macht.
Die Leidenschaft.

Zurück in die Wirklichkeit. Versprenkelte Pünktchen zieren die Tribünen im Neckarstadion, als seien sie Halma-Spielbretter. In der Cannstatter Kurve bleibt der Platz direkt hinter dem Tor leer. Ich verfolge das Spiel im Radio. Und doch macht mein Herz beim Ausgleichstor einen kleinen Hüpfer. Ich kann für einen Moment die Bierdusche fühlen und riechen.

Dem im Vergleich zu vergangener Woche deutlich verbesserten VfB-TV-Service verdanke ich die Möglichkeit, mir folgendes Urteil über das dritte Saisonspiel zu bilden: Einige VfB-Spieler hätten sich eine Lobeshymne für ihre Leistung verdient. Kobel, der mit seinen Paraden der Garant für den Punktgewinn ist, Mavropanos, der ein wuchtiges Debüt als rechter Innenverteidiger feiert, Mangala, der im Zentrum dieses Mal selbst den formstarken Endo in den Schatten stellt, oder Kalajdzic, der dem Angriffsspiel eine völlig neue Dimension verleiht. Ich möchte aber an dieser Stelle über einen Nebendarsteller des verdienten Punktgewinns gegen einen Champions-League-Aspiranten schreiben: Daniel Didavi. Er wird in kaum einem Bericht über dieses Spiel Erwähnung finden, auf keiner Liste zum Spieler des Spiels stehen, und dennoch illustriert er eine bemerkenswerte Entwicklung.

In der Sommerpause – so erzählt man hinter vorgehaltener Hand – wurde Didavi von der sportlichen Führung zu einem ernsten Gespräch geladen. Die Botschaft könnte ungefähr so gelautet haben: Entweder du ordnest dich unter oder du kannst dir einen anderen Verein suchen. Dida entschied sich für Ersteres und liefert bislang. Er reibt sich für die Mannschaft auf und unterstützt seine jungen Nebenleute, ist nicht nur Kreativspieler, sondern auch einer der entscheidenden Faktoren beim Auslösen des Angriffspressings. Seine Paradedisziplin, die Standards, gibt er inzwischen ohne Murren an andere ab. Sosa darf den Freistoß auf die Tribüne prügeln und Castro eine Ecke nach der anderen versemmeln. Gegen die Werkself setzt Didavi keine Glanzpunkte, aber er erfüllt seine neue Rolle: als Teamspieler.

Ich muss zugeben, ich hätte einzelnen Akteuren und der Mannschaft als Ganzes diese Wandlung im Vergleich zu dem pomadigen Auftreten der Zweitligasaison nicht zugetraut. Die sportliche Führung scheint die richtigen Worte gefunden zu haben. Plötzlich steht eine echte Einheit auf dem Platz, die Widerstände überwindet und an ihre Stärke glaubt. Wenn ein Kamerad verletzungsbedingt runter muss, wird er aufgemuntert, und die Einwechselspieler brennen, sobald sie den Platz betreten. Seit langer Zeit spürt man wieder einmal Zusammenhalt und so etwas wie eine Leistungskultur beim VfB.

Ob München, Hamburg oder Dortmund,
egal wo wir sind, wir werden alles geben!
(…) Ob Abstiegskampf oder Champions League,
wir singen dieses Lied!

Damit können wir auch das ewige Gerede beerdigen, dass die Zuschauer in Stuttgart vom ausbleibenden sportlichen Erfolg enttäuscht, und daher überkritisch sind. Im Zusammenhang mit der Datenaffäre wird dieser Mythos gerne aus der Schublade geholt, um die Missstände in der Führung zu kaschieren. Das Spiel gestern zeigt allerdings deutlich: Die Anhänger wollen einfach eine Mannschaft auf dem Platz sehen, die alles gibt. Dann feiern wir ein Unentschieden gegen Leverkusen wie einen Sieg.  

VfB – Bayer 04 Leverkusen 1:1

Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson

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