Allgemein

Die Rückkehr der Kurve

Wenn VfB-Fans den Namen Kimmich hören, reagieren sie gereizt. Der Stachel, dass man sein Ausnahmetalent in Bad Cannstatt nicht erkannt hat, sitzt tief. Außerdem verkörpert Joshua – auf die Aussprache mit weichem „s“ legt er großen Wert – das zur Arroganz neigende Siegergen des FC Bayern. Der ehrgeizige Junge aus Rottweil kann einfach nicht verlieren.

Seit dem Wochenende wissen wir, dass er auch in anderen Fragen seinen ganz eigenen Kopf hat. Kimmich besteht nämlich entgegen aller wissenschaftlichen Erkenntnisse auf das dritte „G“, was er wiederum mit den Kritikern der neuen Einlassregeln im Neckarstadion gemein hat. Meine Gegenthese: 2G hat dem VfB gegen Union einen Punkt gerettet.

Wer hat hier schwere Beine?

Wer selbst Wettkampfsport treibt, kennt diese Tage, an denen selbst einfache Dinge nicht klappen wollen. Bezeichnend dafür, dass der VfB bei der Wiederauflage des Relegationsduells einen solchen erwischt hat, ist die Szene in der 41. Minute, als sich Nartey und Al Ghaddioui in aussichtsreicher Position gegenseitig über den Haufen rennen. Beide Namen waren etwas überraschend auf dem Spielberichtsbogen aufgetaucht, doch sie können ihren Einsatz zu keinem Zeitpunkt rechtfertigen.

Wer gehofft hat, dass die Berliner schwere Beine aus Rotterdam mitbringen würden, sieht sich getäuscht. Schwerfällig ist vor allem das Spiel des VfB. Als Höhepunkt der Missgeschicke kann man den völlig unnötigen Platzverweis bezeichnen, den sich Atakan Karazor eine halbe Minute nach seiner ersten gelben Karte abholt, als er mit gestrecktem Bein in einen Mittelfeldzweikampf rauscht.

Umso bemerkenswerter, dass sich die Mannschaft bis in die Nachspielzeit nicht aufgibt und immer wieder versucht, den Ball nach vorne zu tragen. Der Ausgleich ist aus sportlicher Sicht sicher glücklich, denn der FC Union präsentiert sich als reifere Mannschaft. Wie schon in Gladbach gewinnt das Team um Kapitän Endo am Ende einen Punkt des Willens und der Beharrlichkeit. Fußballerisch bleiben an diesem Sonntagabend fast alle Wünsche offen.  

Das neue 2G-Modell

Unter den in Baden-Württemberg neuerdings für Großveranstaltungen geltenden 2G-Regeln darf die Kapazität des Neckarstadions voll ausgeschöpft werden. Die Gruppen der Cannstatter Kurve können sich wieder mit ihren bunten Fahnen und Doppelhaltern, mit ihren Trommeln und Vorsängern präsentieren. Schon vor Anpfiff der Partie verbreitet sich die vertraute Atmosphäre, die so lange gefehlt hat.

Aus unterschiedlichen Gründen bleiben jedoch viele Plätze im weiten Rund leer: Die einen meiden nach wie vor größere Ansammlungen, andere haben den Platz vor dem Fernseher liebgewonnen, während wieder andere die Anforderungen der Coronaverordnung nicht erfüllen wollen. Der VfB – um das an dieser Stelle einmal klarzustellen – setzt nur die offiziellen Vorgaben der Landesregierung um. Gut 7000 Besucher mehr als die zuvor unter 3G-Bedingungen erlaubten 25000 bedeuten zwar noch lange keine Normalität, erlauben aber deutlich mehr Menschen den Stadionbesuch und bescheren dem Klub damit nicht zuletzt auch höhere, dringend benötigte Einnahmen.

Explosion der Cannstatter Kurve

Schon öfter hat die Cannstatter Kurve ihr Gespür für besondere Situationen bewiesen. Nach dem Platzverweis, über den sich der Übeltäter selbst am meisten ärgert, nach all den untauglichen Angriffsversuchen, die an der Union-Abwehr abprallen, sind die 90 Minuten schon abgelaufen, als das Herz des Neckarstadions noch einmal richtig zu pumpen beginnt: „Olé olé olá – wir sind immer für euch da!“

Was folgt, ist eine Gefühlsexplosion, wie sie zuletzt Chadrac Akolo im Spiel gegen den 1.FC Köln im Herbst 2017 ausgelöst hat. Mit der letzten Aktion des Spiels schießt Wahid Faghir den Ball in Richtung Cannstatter Kurve. Der Linksschuss kommt nicht scharf genug, um Luthe zu überwinden, doch ausgerechnet Timo Baumgartl fälscht die Kugel unhaltbar zum Last-Minute-Ausgleich ab.

Der pure Wahnsinn bricht aus. Wie Kälbchen beim ersten Weidegang nach dem langen Winter hüpfen die VfB-Fans auf den Stufen ihrer geliebten Kurve, die Spieler samt Betreuerteam auf dem Rasen. Miteinander, übereinander, durcheinander – „du bist unser Leben, gibst uns so viel“.

Lange Mängelliste

In einer englischen Woche bleibt nicht viel Zeit, das emotionale Wechselbad zu verarbeiten. Gegen den 1. FC Köln will Matarazzo mit seiner Truppe schließlich erneut ins Achtelfinale des DFB-Pokals einziehen. Wie ich unseren analytischen Cheftrainer aber einschätze, werden ihm die Unzulänglichkeiten im VfB-Spiel keinesfalls entgangen sein.

Aus dem behäbigen Aufbau, der fehlenden Tiefe und dem Mangel an Risikobereitschaft und Spielwitz im letzten Drittel ergeben sich kaum Torchancen. Der hochgelobte Trichter vor der Abwehr, die Dreierformation aus Karazor, Endo und Nartey, entfaltet gegen Union zu wenig Dynamik, um die gut gestaffelte Abwehr in Verlegenheit zu bringen. Auch über die Flügel gelingen keine Durchbrüche. Von dem so oft beschworenen Mut ist nichts zu sehen. Stattdessen wirken einige Akteure ziemlich überfordert.

Coulibaly hat es auf der rechten Seite mit Timo Baumgartl zu tun, der den Franzosen phasenweise abkocht wie einen Jugendspieler. „Unser“ Timo, das Talent aus dem eigenen Stall, das man vor zwei Jahren ohne Abschiedstränen nach Eindhoven ziehen ließ, liefert eine blitzsaubere Partie als linker Halbverteidiger, bis er in der Nachspielzeit seinen Fuß so unglücklich in die Schussbahn hält.

Wer ist hier eigentlich solidarisch?

Von diesem Spiel wird ganz sicher eines bleiben: die Rückkehr der Kurve. Als Übergangslösung bezeichnen ihre Vertreter die momentane Situation auf dem Weg zurück zum früheren Stadionerlebnis. Ermöglicht haben diese Entwicklung die zahlreichen Menschen, die sich und andere mit der Impfung schützen. Solidarität nennt man ein solches Verhalten. Diejenigen, die nach wie vor die kostenlose und wissenschaftlich erprobte Injektion verweigern, profitieren auch davon. Denn wenn wir lauter Kimmichs hätten, gäbe es – wenn überhaupt – Bundesligafußball vor leeren Rängen. Und die drei Punkte wären dann wohl nach Köpenick gegangen.

VfB – FC Union Berlin 1:1

Zum Weiterlesen:

Same procedu…Jaaaaaaaaaa! – Rund um den Brustring

Fine Young Cannibals (vertikalpass.de)

VertikalGIF #VfBFCU: Die Comebacker vom Neckar – Vertikalpass

Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.