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Deadline-Theater

Kann Herr Wohlgemuth angesichts mangelnder Sprachkenntnisse mit ausländischen Vereinen verhandeln? Hat er außer ehemaligen Hoeneß-Schützlingen und Bankdrückern von Ligakonkurrenten überhaupt Kandidaten auf dem Zettel? Verscherbelt er nur fahrlässig Mislintats Tafelsilber?

Die Aufgeregtheit, mit der heute die Wechsel von Fußballprofis von einem Verein zum nächsten begleitet werden, ist sowieso schon ziemlich absurd. Die Kommentare rund um die aktuellen Transfers des VfB gleichen allerdings einer ausgewachsenen Profilneurose. Lauter kleine Romanos und Plettenbergs überbieten sich in pseudo-fachkundigen Rezensionen, die den amtierenden Sportdirektor selten gut aussehen lassen.

Fabian Wohlgemuth und das Handy als ständiger Begleiter. (Foto: Simeon Kramer via zvw.de)

Konstanz und Widerstandsfähigkeit

Wer nach der Messlatte sucht, an der wir die Transferperiode bewerten können, sollte sich an der Saisonanalyse orientieren: „Im Kern geht es darum, wie wir unsere Defizite in puncto Leistungskonstanz, Effektivität und Widerstandsfähigkeit abbauen – alles Merkmale, die auch mit der mannschaftlichen Reife zu tun haben“, erläuterte Wohlgemuth Anfang Juli. Und weiter: „Wir wollen mehr Selbstorganisation auf dem Platz, eine Mannschaft, der es beständiger gelingt, am eigenen Limit zu spielen.“

Auf der Torwartposition könnte die Nübel-Leihe den erhofften Effekt zeigen, aber schon in der Abwehr sind Zweifel angebracht. Seit Jahren sind nicht zuletzt die vielen Gegentore dafür verantwortlich, dass die Mannschaft mit den sportlichen Zielen zu kämpfen hat. Mittelstädt, Stergiou und Rouault sollen nun also die Abgänge von Sosa und Mavropanos auffangen und die Defensive stabilisieren.

Im zentralen Mittelfeld soll Neuzugang Stiller gemeinsam mit Karazor, Millot, Egloff und Haraguchi den Verlust von Kapitän Endo wettmachen. Im Laufe der Spielzeit werden wir uns erinnern, dass Legendo fast jedes Spiel über die volle Distanz bestritt, kaum Schwankungen zeigte und entscheidende Scorer beisteuerte. Ohne einen gewaltigen Leistungssprung eines oder mehrerer seiner Nachfolger wird der Qualitätsverlust schmerzhaft zu spüren sein.

Wataru Endo läuft jetzt im Trikot von Liverpool FC auf. (Foto: Getty Images)

Im Angriff ruhen die Hoffnungen auf Serhou Guriassy und der steigenden Formkurve von Führich und Silas. Jeong, Undav, Leweling und Milosevic sollen aus der zweiten Reihe Druck auf die Stammspieler machen. In der Breite scheint die Offensive besser besetzt als vergangene Saison, doch Stürmer werden an Scorerpunkten gemessen und nicht an Vorschusslorbeeren.

Silas gelingt zum Start gleich ein Doppelpack. (Foto: IMAGO/Pressefoto Baumann)

Die wohl unvermeidlichen Abgänge dreier Nationalspieler und Leistungsträger wird die Mannschaft nicht so leicht kompensieren können. Noch mehr als die Neuzugänge sehe ich jetzt Spieler am Zug, die ihr Potenzial im Brustringtrikot noch nicht ausgeschöpft haben. Zagadou, Millot, Führich und Silas könnten zu Gewinnern der Saison werden, wenn sie die Gunst der Stunde nutzen.

Wohin fließen die Transfererlöse?

Den rund 50 Mio. Einnahmen für Endo, Mavropanos und Sosa stehen Ausgaben in Höhe von gut 20 Mio. Euro gegenüber: 9 Mio. für Guirassy, 5,5 Mio. für Stiller, 2,8 Mio. für Jeong, 1,2 Mio. für Milosevic, 500 Tsd. für Mittelstädt plus die Leihen von Nübel, Leweling, Undav, Stergiou und Rouault. Macht unter dem Strich ein Transferplus von knapp 30 Mio. Euro.

Damit gehört der VfB im dritten Sommer nacheinander zu den Profiteams mit den höchsten Transferüberschüssen im deutschen Fußball, in der Fünf-Jahres-Bilanz belegt man Platz 1. Zurecht fragen sich die Anhänger, wohin das ganze Geld fließt, das der Klub durch den Verkauf seiner besten Spieler einnimmt. Im Grunde kennen wir die Antwort: Einnahmeverluste durch die Corona-Pandemie, Kredittilgung, Kosten der Modernisierung des Stadions und der Trainingsanlagen sowie ziemlich hohe Personalkosten für eine Fahrstuhlmannschaft.

Dass der Traditionsklub aus Cannstatt in wirtschaftlich allgemein schwierigen Zeiten stärker beeinträchtigt ist als so mancher Konkurrent, liegt nicht zuletzt an hausgemachten Problemen. Nach den Abstiegen 2016 und 2019 kämpfen die Schwaben Jahr für Jahr um das Überleben in der Bundesliga. Bei den so wichtigen TV-Einnahmen haben uns selbst vermeintlich graue Mäuse längst den Rang abgelaufen. Die Investition in den Stadionumbau kommt in einer solchen Phase nicht nur ungelegen, sie fällt auch höher aus, als vielen bewusst war. Auch die Folgen der Pandemie schlagen aufgrund des großen Stadions und der hohen Personalkosten in der AG besonders zu Buche.

Immerhin besteht Hoffnung für die Zukunft. Der Einstieg der Premiummarke Porsche als Anteilseigner, die Neuaufstellung der Sponsorenpyramide und der unternehmerische Fokus auf Internationalisierung, Digitalisierung sowie Stärkung der Marke versprechen eine Erhöhung des Eigenkapitals und künftig mehr Handlungsspielräume. Die finanzielle Situation sollte sich allerdings zügig verbessern, wenn der VfB nicht dauerhaft im Teufelskreis von erzwungenen Verkäufen der Leistungsträger und sportlichem Misserfolg feststecken will.

Kreativ oder fantasielos?

Tritt man am Tag nach dem Deadline-Day einen Schritt zurück und schaut sich die Lage in Bad Cannstatt in Ruhe an, fallen drei Dinge ins Auge:

  • Der Kader weist Schwachstellen auf, die schon seit geraumer Zeit bestehen: Borna Sosa war lange der einzige gelernte Linksverteidiger im Kader. Jetzt ist es Maxi Mittelstädt. Für die Doppelsechs im 4-2-3-1 oder 3-4-2-1 stehen nach wie vor nur drei Spieler zur Verfügung, von denen einer längerfristig verletzt ausfällt (Nartey mit Knorpelschaden im Knie). Karazor und Stiller sollten also möglichst gesund bleiben. Und wer vertritt Guirassy, wenn der beim Afrika-Cup weilt? Letzte Saison versuchten sich Pfeiffer und Silas erfolglos, diesmal müssen es Undav, Leweling oder Milosevic richten. Glück auf!
  • Das wohl wichtigste Ergebnis der Saisonanalyse war, dass im Bereich Sport ein qualifizierter Vorstand fehlt. Die zurückliegende Transferperiode musste Fabian Wohlgemuth noch mit dem alten Team bestreiten. Wenn die VfB AG nicht ausgerechnet in ihrem Kerngeschäftsfeld ins Hintertreffen geraten will, muss der Aufsichtsrat möglichst bald einen Sportvorstand bestellen, der die langen Linien zeichnet – und einen Nachfolger für den scheidenden Thomas Krücken einstellt.
  • Angesichts der angespannten finanziellen Lage und der drei namhaften Abgänge hat der Sportdirektor sein Bestes getan, um eine konkurrenzfähige Mannschaft ins Rennen zu schicken. Der Kader wurde insgesamt ausgedünnt und gleichzeitig an einigen Stellen ergänzt. Die zweite Reihe wirkt robuster und wettbewerbsfähiger als vergangene Saison.

Wohlgemuth fehle die Fähigkeit, Spieler zu verpflichten, die Werte für den Klub generieren. Dieser Vorwurf ist nicht nur unsachlich, sondern auch ziemlich voreilig. Spieler wie Stiller, Rouault oder Undav könnten in zwei oder drei Jahren durchaus zweistellige Millionenbeträge einbringen. Erst dann können wir darüber befinden, wie kreativ oder fantasielos der Mislintat-Nachfolger in seiner ersten Sommertransferperiode agiert hat.

Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson

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