Allgemein

Hart und platziert

Vier Elfmeter bekommt der VfB in den letzten drei Bundesligapartien zugesprochen, vier verschiedene Schützen treten an und nur ein einziger bringt den Ball im Tor unter. Die Geschichte des Duells Dritter gegen Vierter aber nur anhand der beiden Strafstöße zu erzählen, greift zu kurz. Nach der 0:4-Heimniederlage gegen die Bayern werden die ambitionierten Dortmunder innerhalb einer Woche zum zweiten Mal an die Wand gespielt. Dieses Mal nicht vom deutschen Rekordmeister sondern von einer Mannschaft, die letzte Saison nur knapp dem Abstieg entronnen ist und vergangene Woche von Aufsteiger Heidenheim düpiert wurde.

The sniper is back: Guirassy verwandelt zum 2:1-Siegtreffer. (Foto: sportschau.de)

Überrannt

Von Anfang an ist im ausverkauften Neckarstadion zu spüren, dass sich die Mannschaft von Trainer Hoeneß Wiedergutmachung geschworen hat. Sie will sich nicht noch einmal vorwerfen lassen, zu lasch und unentschlossen aufgetreten zu sein. Mit Mittelstädt, Leweling und Millot nimmt der Coach drei Änderungen an der Startelf vor. Die beiden Erstgenannten sollen die Flügel beackern, der junge Franzose für Überraschungsmomente zwischen den Linien sorgen. Damit beginnt Hoeneß zum ersten Mal in dieser Saison mit einer Dreierkette und behält interessante Optionen zunächst auf der Bank. Obwohl nicht alle Fans sofort überzeugt sind, tragen seine Maßnahmen am Ende zum verdienten Heimsieg bei.

Der ehemalige Trainer der kleinen Bayern hat den Gegner offensichtlich vergangenes Wochenende ausführlich studiert. Da überrannten die großen Bayern den BVB mit hohem Pressing und hoher Intensität. Seine Schützlinge übernehmen diesen Ansatz, gehen nach Ballverlusten sofort ins Gegenpressing und bringen die löchrige Viererkette des Gegners immer wieder mit Schnittstellenpässen in Verlegenheit. Nach einer halben Stunde stehen neun Torabschlüsse der Schwaben auf dem Zettel, davon ein Elfmeter und einige, die man ohne zu übertreiben als solche bezeichnen kann. Die Westfalen haben zu diesem Zeitpunkt noch kein einziges Mal aufs Tor geschossen.

Immer einen Schritt zu spät: Hummels gegen Undav. (Foto: vfb.de)

Und dann passiert das, was passieren musste. Füllkrug trifft nach einem Zagadou-Patzer zum 0:1 (36.) und stellt den Spielverlauf damit völlig auf den Kopf. Die Schwarz-Gelben sind bis dahin nämlich eher damit beschäftigt, ihre internen Differenzen auszutragen: Hummels ranzt Özcan an, der Ex-Kölner energisch zurück. Kapitän Kobel hadert mit der ganzen Hintermannschaft, während sich Karim Adeyemi in Scharmützeln verliert. In der 15. Minute gerät er mit Deniz Undav aneinander, der dem 21-Jährigen kurz erklärt, was er von notorischen Provokateuren hält. Die Leistungsdaten der beiden sprechen eine klare Sprache: Der Deutsch-Türke führt die zweitmeisten Zweikämpfe aller Spieler und schießt am häufigsten aufs Tor, der Dortmunder gewinnt nur zwei seiner elf Zweikämpfe und bleibt nach der Pause in der Kabine, um dem drohenden Platzverweis zu entgehen.

Papa Guirassy

Aus einer überzeugenden, phasenweise furios aufspielenden Mannschaft lassen sich beim verdienten Heimsieg gegen den Champions-League-Teilnehmer drei Spieler besonders hervorheben. Zunächst ist da natürlich das Comeback des 15-Tore-Stürmers Serhou Guirassy. Kaum betritt er in der 67. Minute den Platz, beginnt er das Offensivspiel der Weiß-Roten zu ordnen. Immer wieder lässt er sich fallen, um als Anspielstation den Aufbau zu unterstützen. In der 82. Minute entscheidet Papa Guirassy schließlich die Partie mit einem Strafstoß, wie man ihn kaum besser schießen kann. Obwohl Kobel die richtige Ecke ahnt, schlägt der stramme Schuss unhaltbar neben dem Pfosten ein.

Mein persönlicher Man of the Match ist aber Maxi Mittelstädt. Der Ex-Herthaner bringt bei seinem zweiten Startelfeinsatz im Brustring genau das ein, weswegen man ihn geholt hat. Auf seiner linken Seite führt und gewinnt er die meisten Zweikämpfe aller Spieler, sorgt immer wieder für Ballgewinne und leitet mit seiner Dynamik schnelle Gegenangriffe ein. Nach Sunnyboy Sosa, dem verkappten Außenstürmer mit dem gefühlvollen linken Fuß, lieben die Fans jetzt Maxi, den Terrier, einen der unangenehmsten Gegenspieler der Liga.

Maxi Mittelstädt lässt Ryerson alt aussehen. (Foto: vfb.de)

Auch Jamie Leweling hat sich eine gesonderte Erwähnung verdient. Immer wieder rückt er auf seiner rechten Seite weit auf und reißt Löcher in die Dortmunder Abwehrkette. Nur beim Abschluss fehlen dem 22-Jährigen noch Ruhe und Präzision. Völlig freistehend bringt er in der 23. und 31. Minute nicht mehr zustande als eine bessere Rückgabe in die Arme von Gregor Kobel. Auf Rechtsaußen bahnt sich ein interessanter Konkurrenzkampf zwischen ihm, Silas und Josha Vagnoman an. Youngster Raimund darf nach seinem Profidebüt von letzter Woche wieder in der U19 Spielpraxis sammeln.

Anwälte, die Brücken bauen

Apropos Nachwuchs. Seit letzter Woche ist Thomas Krückens Nachfolger als NLZ-Leiter bekannt. Hildebrandt heißt er, wie der Held von Bochum, nur mit „dt“. Kaum einer wird je von ihm gehört haben, es sei denn ihr seid Liebhaber des Berliner Jugendfußballs oder eingefleischte HSV-Fans. Der 50-Jährige gebürtige Ost-Berliner beginnt seine Karriere Ende der 90er-Jahre als Jugendtrainer. In einem Interview aus dem Jahr 2015 erzählt er von seinen ersten Stationen bei SV Empor Berlin, BFC Dynamo und Carl Zeiss Jena. Danach geht es zum HSV, wo er von 2002 bis 2010 als Leiter der Nachwuchsabteilung arbeitet, später als sportlicher Leiter bei Energie Cottbus (2010-2013). So steht es auch grob in der Pressemitteilung des VfB.

Stephan Hildebrandt als Leiter der Fußballschule der Aspire Academy in Katar. (Foto: bsports-mm.de)

Doch was hat Herr Hildebrandt die letzten zehn Jahre getrieben? Als seine Karriere 2013 ins Stocken geriet, habe ihm Christoph Schickardt eine Brücke nach Katar gebaut, erzählt der Talente-Entwickler und singt Loblieder auf den beim VfB wohlbekannten Rechtsanwalt und Strippenzieher. Schickardt vermittelt seinem Bekannten also die gut dotierte Stelle als Leiter der Fußballschule der Aspire Academy, eines der weltweit größten Trainingszentren für Spitzen-Sportler in Ar-Rayyan westlich von Doha. Der Emir hegt den Traum, zum Nabel der Fußballwelt zu werden.

In der Vereinsmitteilung ist von all dem nichts zu lesen. Haben die Verantwortlichen womöglich den Podcast „HSV, wir müssen reden“  gehört? Da spricht der künftige NLZ-Leiter des VfB nämlich ausführlich über Katar, Moral und die WM-Vergabe. „Wir dürfen unser Wertesystem nicht als Maßstab nehmen“, meint Hildebrandt, weiß aber gleichzeitig: „Man muss aufpassen, dass man sich nicht um Kopf und Kragen redet“. Doch genau das tut er dann knapp zwei Stunden lang.

Nach seiner Katar-Episode holt ihn Bernd Hoffmann als Berater zum HSV zurück, ein Jahr später müssen zuerst der Aufsichtsratsvorsitzende und dann auch sein Vertrauter gehen. In Hamburg gilt Hildebrandt als Intimus von Beiersdorfer und Hoffmann, deren Demission ihm jeweils zum Verhängnis wird. Jetzt klopft also der VfB an – wohl in Person von Fabian Wohlgemuth. Wie aus dem erwähnten HSV-Podcast hervorgeht, haben sich ihre Wege mehrfach gekreuzt. Vielleicht erinnert sich der VfB-Sportdirektor nun an den alten Gefährten, der inzwischen als Geschäftsführer der BSports Management GmbH in Jena firmiert. Oder hat erneut der Anwalt die Finger im Spiel?

Es ist schwer zu sagen, ob Hildebrandt der Richtige für den VfB ist. Immerhin verfügt er über langjährige Erfahrung in der Nachwuchsarbeit und beschäftigt sich schon seit 2018 mit dem Thema Frauenfußball. In Bad Cannstatt hinterlässt ihm sein Vorgänger einen funktionierenden Laden mit vielen engagierten Fachleuten. Allerdings liegt das rote Klubhaus nicht in der Wüste, und hier stehen auch keine einhundert Athletiktrainer Gewehr bei Fuß. Der Rheinländer Krücken hat sich schnell im Schwabenland zurechtgefunden, wünschen wir dem Berliner Hildebrandt das gleiche – und bitte keine Interviews über (sport)politische Fragen.

Eine vereinspolitische Frage stellt sich aus VfB-Sicht aber auf jeden Fall: Wenn Wohlgemuth bei der Besetzung des Direktoren-Postens im NLZ ein so gewichtiges Wort mitsprechen darf, wird er dann auch der künftige Sportvorstand? Wehrle, Wohlgemuth und Gentner könnte das neue Triumvirat heißen. Aber waren das nicht genau die, die vor einem Jahr Labbadia holten und auch sonst ziemlich überfordert waren? Sind Wehrle und Co. nicht zu dem Schluss gekommen, dass man sich im sportlichen Bereich besser aufstellen müsse? Bei der schonungslosen Saisonanalyse, ihr wisst schon.

Balsam für die Fanseele

Vor der dritten Länderspielpause der Saison hat es sich der VfB in der Spitzengruppe der Bundesliga bequem gemacht. Nachdem zwei Drittel der für das Erreichen des Saisonziels notwendigen Punkte eingefahren sind, darf man den kommenden Aufgaben mit Vorfreude entgegensehen. Neben dem reinen Zählen von Punkten will die Fanseele nach entbehrungsreichen Jahren gestreichelt werden.

Wann hat man den BVB zuletzt so hergespielt? Wie lange liegt der letzte Auswärtssieg bei der SGE zurück? Und wie macht sich der Hoeneß-Ball gegen Alonsos Kombinationsmaschine und Harry, den Super-Larry? Eines weiß der neue Star der Bayern jedenfalls ganz genau: Elfmeter schießt man hart und platziert.

VfB Stuttgart – Borussia Dortmund 2:1

Zum Weiterlesen:

Ein Sieg der Leidenschaft – Vertikalpass

Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson

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