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Traumatherapie

Würde man VfB-Fans in einer kollektiven Therapiesitzung behandeln, kristallisierte sich wohl ein Ereignis als Auslöser vieler Traumata heraus: das Scheitern im Relegationsrückspiel an der Alten Försterei. Das Unvermögen der eigenen Mannschaft, die Provokationen der Heimfans nach dem Spiel, der bis vor Kurzem unaufhaltsame Aufstieg der Mannschaft von Urs Fischer seitdem. Der künstlich aufgeblasene Kult um Union Berlin ist in Cannstatt zu einem roten Tuch geworden.

Am Samstag fallen all diese schlechten Erinnerungen und verletzten Gefühle mit einem Mal ab. Die in Grün gekleideten Gäste schicken den Champions-League-Teilnehmer aus Köpenick schmerzhaft auf die Bretter. Sportdirektor Wohlgemuth bringt es so auf den Punkt:

„Das war eine reife Leistung der Mannschaft. Sie hat sich verdient gegen die Robustheit und auch Ruppigkeit der Berliner durchgesetzt.“

Fabian Wohlgemuth nach dem Spiel bei Union Berlin
Silas überwindet Rönnow zum vorentscheidenden 2:0. (Foto: Koch/Imago via berliner-zeitung.de)

Erst dominant, dann effizient

Fußballspiele des VfB zu sehen, ist zur Zeit weit weniger nervenaufreibend als noch vor einigen Monaten. Sebastian Hoeneß hat es geschafft, seiner Mannschaft eine klare Struktur zu geben, die auch im schweren Auswärtsspiel im Südosten Berlins stabil bleibt. Der FC Union ist in der ersten Hälfte chancenlos, ohne dass die Gäste ein Feuerwerk abbrennen müssen. Mit guter Raumaufteilung und sicherem Passspiel halten Karazor und Co. den Ball vom eigenen Tor fern – und nutzen die Passivität des Gegners zur frühen Führung. Neuzugang Rouault hat in der 16. Minute viel Zeit, eine gefühlvolle Flanke in den Strafraum zu chippen, die Serientorschütze Guirassy so selbstverständlich einköpft, wie unsereiner das nächste Kaltgetränk öffnet.

Das 0:3: Deniz Undav macht den Deckel drauf. (Foto: Andreas Gora/dpa)

Umso ärgerlicher, dass der beste Torschütze aller europäischen Topligen nach einer halben Stunde mit einer Oberschenkelverletzung raus muss. Doch der VfB-Motor ruckelt nur kurz. Bevor die Gastgeber zu ihrer ersten nennenswerten Torchance kommen, vergibt Unions Leihgabe Jamie Leweling gleich zwei Mal aus aussichtsreicher Position (53. und 60.). Trotzdem kippt das Spiel in dieser Phase nicht, weil sich Hoeneß den Luxus erlauben kann, mit Silas und Ito zwei Spieler von der Bank zu bringen, die eigentlich Startelf-Qualität besitzen.

In der 81. Minute schaltet der VfB über Millot schnell um, Undav verpasst den Ball, aber Silas ist eine Schuhspitze schneller als Nationalspieler Gosens und setzt zu einem seiner gefürchteten Ein-Mann-Konter an. Wenn der Kongolese einmal in Fahrt kommt und vor dem Tor die Beine richtig sortiert, ist er nicht zu stoppen. Kaum auszudenken, sollte auch er noch zu Bestform auflaufen. Seine Mitspieler freuen sich jedenfalls wie die Schneekönige für ihn. Die kommenden Gegner werden mit Sorge beobachten, wie breit die Offensivabteilung mit dem Brustring inzwischen aufgestellt ist.

Eiskalt den Zahn gezogen

Nach acht Spieltagen zeigt die Bundesligatabelle eine verkehrte Welt: Der Champions-League-Teilnehmer krebst mit 6 Punkten am Rande der Abstiegszone herum, während der Fast-Absteiger mit 21 Zählern sogar vor den Bayern steht. Das Überraschungsteam der letzten Jahre, das Paradebeispiel für ein starkes Kollektiv ohne Stars, die notorischen Overperformer mit der unangenehmen Spielweise, plötzlich sind sie entzaubert.

Und der VfB? Der überwindet den Fluch, dass er sich gegen zeckige Mannschaften zu schnell einschüchtern lässt. Die vermeintlich Hochbegabten, die im entscheidenden Moment den Turnbeutel vergessen haben, wissen sich auf einmal zu wehren. Am Samstag zeigt sich das Team um Kapitän Anton von Provokationen und harten Zweikämpfen unbeeindruckt; dieses Mal verabreicht man Union dessen eigene Medizin. Taktisch diszipliniert und effizient ziehen die Schwaben den Gastgebern eiskalt den Zahn.

Ein Kopf des Aufschwungs: Angelo Stiller wird immer stärker. (Foto: City-Press via bz-berlin.de)

Einen nicht unerheblichen Anteil daran hat Angelo Stiller. Der 22-jährige Münchner, der kurz vor Saisonbeginn für Wataru Endo kam, hat sich gemeinsam mit Atakan Karazor in kürzester Zeit zum Taktgeber aufgeschwungen. Warum um Himmels Willen hatte ein Spieler seiner Qualität in Hoffenheim keinen Stammplatz, fragen sich viele. Wie er den Ball abschirmt, wie er das Spiel zu lesen vermag, mal nur kurz prallen lässt, um den Ball dann wieder zu schleppen, das ist für einen Spieler seines Alters schon ungewöhnlich gut. Sein Wechsel zum VfB, zu seinem Mentor Sebastian Hoeneß, ist das Beste was ihm und uns passieren konnte. Ein „perfect match“.

Eimerweise Genugtuung

Um die große Genugtuung der Anhänger nach dem souveränen Auswärtssieg zu verstehen, muss man sich die VfB-Bilanz gegen den zum Kultklub avancierten Emporkömmling anschauen. Seit April 2017, damals noch in der zweiten Liga, konnten die Weiß-Roten nicht mehr gegen Union gewinnen, das 0:3 am 26. Spieltag der vergangenen Saison kostete Labbadia den Job und den Klub fast die Bundesligazugehörigkeit. Die Relegation im Mai 2019 stellte den Tiefpunkt der jüngeren Vergangenheit dar, obwohl man keine der beiden Partien gegen spielerisch limitierte Köpenicker verlor. Seit Union Berlin in der Bundesliga und darüber hinaus für Furore sorgt, läuft der VfB Gefahr, seinen über Jahrzehnte erworbenen Ruf als großer Bundesligastandort zu verlieren. Diese für alle Brustringträger schwer zu akzeptierende Entwicklung ist nun erst einmal gestoppt. Union: null. Stuttgart: drei. Und das ist auch gut so!

Sogar mehr als gut. Der Motor läuft beim VfB momentan so rund, dass man sich einen Rückfall in alte Zeiten nur schwer vorstellen kann. Weder die Länderspielpause noch die Guirassy-Auswechslung bringen die Mannschaft vom Weg ab. Die neue Widerstandsfähigkeit spiegelt sich auch in der Körpersprache wider. Rouaults kleines Tête-à-Tête mit Haberer an der Seitenlinie (34.) ruft sofort Leweling, Millot, Anton und Undav auf den Plan. Der Kapitän macht dem hinzugeeilten Diogo Leite unmissverständlich klar, was er davon hält, wenn ein junger Mannschaftskamerad angegangen wird. Der neue VfB kann auch zeckig, wenn er will.

Endlich werden die Auswärtsfahrer mit Siegen belohnt. (Foto: Simeon Kramer/twitter.com)

In einer guten Woche kommt es zur Neuauflage des Duells vom Samstag im DFB-Pokal. Diesmal hat der VfB Heimrecht. Trainer Fischer und seine Mannschaft werden nicht gerade begeistert von der Auslosung sein. Das Neckarstadion wird kein Mitleid mit den schwer gebeutelten Eisernen empfinden. Der letzte Teil der Traumatherapie steht nämlich noch aus: der Doppel-Knock-Out innerhalb von zehn Tagen.

Union Berlin – VfB Stuttgart 0:3

Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson

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