Pflichtsieg im Zebratrikot
Ein Königreich für einen Tunnelclub. Bei frostigen Temperaturen hätten sich die Zuschauer im ausverkauften Neckarstadion sicher ein warmes Plätzchen gewünscht. Doch statt exklusiver Einblicke und gehobener Kulinarik bietet der VfB seinen Anhängern im Topspiel der Bundesliga ein schwarz-weiß geflecktes Künstler-Trikot und eine grundsolide Krautpfanne.
Als Alexander Wehrle unter der Woche beim Podcast VfB STR zu Gast ist, platziert er vor allem zwei Botschaften: Der Klub braucht ein behutsames Wachstum statt voreiliger Träumereien. Und er selbst denkt und handelt gerne innerhalb eines mittelfristigen Zeithorizonts. Doch während der Partie gegen Werder Bremen wird allen Beobachtern bewusst, wie groß der Qualitätsunterschied zu den Teams im Tabellenkeller inzwischen geworden ist. Nach 12 Spieltagen beträgt der Vorsprung auf Platz 6 schon 10 Punkte.
Wenig Kunst, viel Dominanz
Wozu die ganz in Weiß gekleideten Gäste aus Bremen die weite Reise ins Württembergische angetreten haben, wissen sie wohl selbst nicht so genau. Bis zur 88. Minute dauert es, bis Alexander Nübel den ersten Schuss abwehren muss. Dass Bittencourt, Ducksch und Co. kicken können, bezweifelt niemand, wie schwer einem aber das Spielen im Tabellenkeller fällt, wissen wir in Cannstatt nur allzu gut. Ganz anders sieht das auf Tabellenplatz drei aus. Im neu formierten 4-2-2-2 beherrscht der VfB seinen harmlosen Gegner am Samstagsabend nach Belieben.
Die neue Leichtigkeit des Seins trägt die Gastgeber zu einem ungefährdeten Heimsieg, obgleich an diesem Abend ehrlich gesagt nicht besonders viel gelingt. Chris Führich rennt sich regelmäßig auf dem linken Flügel fest, sein Teamkollege auf der rechten Seite initiiert viel und vollendet nichts. Es muss jedem VfB-Fan wie ein wunderbarer Traum vorkommen, dass sich die Mannschaft diese Ungenauigkeiten leisten kann, weil sie dem Gegner in der Spielanlage und der individuellen Qualität hoch überlegen ist. Undavs Abstauber nach starker Vorarbeit von Kapitän Anton und ein zweifelhafter Guirassy-Elfmeter manifestieren diesen Unterschied auch an der Anzeigetafel.
Nur sporadisch blitzt das Potenzial auf, das in der Mannschaft von Sebastian Hoeneß steckt. In der 11. Minute zelebrieren Undav und Guirassy einen doppelten Doppelpass, der ein Tor verdient gehabt hätte. Kurze Zeit später spielen Silas und Guirassy Katz und Maus mit der Werder-Abwehr, bevor der Kongolese in der 51. Minute gekonnt mit der Hacke für den 16-fachen Torschützen auflegt, der mit seinem Schlenzer das lange Eck nur knapp verpasst. Ole Werner und seine Schützlinge schrammen nicht zuletzt deswegen an einer deftigen Schlappe vorbei, weil sich der Nationalspieler Guineas längst nicht so treffsicher zeigt wie gewohnt.
Die Stenzel-Variante
Sein bestes Saisonspiel machte „Kalle“ wohl beim 3:1-Heimsieg gegen den SV Darmstadt. Stenzelinho war geboren. Nach dem Ausfall von Hiroki Ito holt Trainer Hoeneß wieder die Stenzel-Variante aus der Schublade. Dem erfahrenen Rechtsverteidiger kommt dabei unter anderem die Aufgabe zu, im Ballbesitz in den rechten Halbraum einzurücken und Offensivaktionen einzuleiten. Gleichzeitig soll er als Korsett für den taktisch ungezähmten Silas Katompa fungieren. Im Spiel gegen Werder geht von der rechten Seite wesentlich mehr Gefahr aus als über den wirkungslosen Führich. Dass Silas trotz seiner zahlreichen vielversprechenden Ansätze keinen einzigen Schuss aufs Tor von Michael Zetterer abgibt, beweist jedoch aufs Neue, woran es dem pfeilschnellen Außenstürmer fehlt.
Deutlich reifer tritt da Enzo Millot auf, der über Nacht Stiller geworden zu sein scheint. An der Seite von Ata Karazor dominiert der 21-jährige Franzose das Mittelfeld, wirft sich beherzt in Zweikämpfe und findet sogar noch Zeit für offensive Akzente. Kaum zu glauben, dass vor knapp einem Jahr noch an seiner Bundesligatauglichkeit gezweifelt wurde. Inzwischen switcht er mitten im Spiel von der Sechs zur hängenden Spitze und lässt nebenbei mit einer Körpertäuschung gestandene Abwehrrecken ins Leere laufen. Wäre ich Sportdirektor, stünde seine Vertragsverlängerung ganz oben auf meiner Prioritätenliste.
Operativer Cash-Flow
Neulich hat Matthias Sammer im Podcast Phrasenmäher ein vernichtendes Urteil über Wirtschaftsmanager im Fußball gefällt. Sie seien eitel und hätten keine Führungsqualitäten, meint der VfB-Meisterheld von 1992. Böse Zungen behaupten Ähnliches über Alexander Wehrle. Der studierte Verwaltungsfachwirt könne zwar fachmännisch über KPIs und den Mittelbau der Sponsorenpyramide referieren, verstünde aber wenig von Fußball. Vergangene Woche war der Vorstandschef bei VfB STR zu Gast – und wurde seinem Ruf als Wirtschaftsexperte gerecht.
Das Signing sei abgeschlossen, das Closing nur noch eine Formalität, lässt Wehrle da wissen. Mit anderen Worten: Auch Anfang Dezember ist das seit Monaten angekündigte württembergische Weltmarkenbündnis noch nicht in trockenen Tüchern. Porsche ante portas, könnte man sagen. Für das Projekt Stadionumbau hat er aus unternehmerischer Sicht nur lobende Worte übrig. Unter anderem der Tunnel-Club werde dafür sorgen, dass man „aus dem operativen Cash-Flow künftig Liquidität generieren“ könne und „weniger Fremdkapitallinien“ benötige. Dem Feuerkopf würde es bei solchen Aussagen wahrscheinlich die Zehnägel hochrollen.
Etwas pikiert gibt sich der CEO angesichts der öffentlichen Kritik an seinen Beratern. Philipp Lahm habe mit seiner Agentur eine wertvolle Analyse der NLZ-Strukturen geliefert und werde auch künftig bei Bedarf eingebunden. Ob Wehrle das wie im September 2022 noch einmal auf großer Bühne ankündigen würde? Wohl eher nicht. Zumindest Sammers Wohlwollen dürfte er in dieser Angelegenheit haben. Denn der Rat ehemaliger Spitzenspieler steht bei ehemaligen Spitzenspielern hoch im Kurs – fragt mal Müller, Förster oder Buchwald.
Dortmund, Leverkusen, Bayern
Vor den Spitzenspielen gegen die Creme-de-la-Creme des deutschen Fußballs hat sich der VfB seinen Winterspeck bereits angefressen. Selbst wenn man im Pokal ausscheiden und bis Weihnachten keinen einzigen Punkt mehr holen sollte, wird diese Halbserie noch lange in Erinnerung bleiben. Nicht wegen Künstler-Trikots oder abgehobener Business-Lounges sondern weil es schon lange nicht mehr so unangenehm war, gegen den Brustring zu spielen.
VfB Stuttgart – SV Werder Bremen 2:0
Zum Weiterlesen:
Souverän – Rund um den Brustring
reybucanero74
Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson