Allgemein

Mit dem Rücken zur Wand

Als Alexander Wehrle im Dezember die Verpflichtung von Bruno Labbadia erläutert, gibt er sich Mühe, die sportliche Lage möglichst dramatisch darzustellen. Für einen Retro-Trainer mit Stallgeruch muss man sich in Stuttgart heutzutage rechtfertigen – das war auch mal anders.

Karikatur von Reiner Schwalme. (Quelle: politische-bildung-brandenburg.de)

Kein Labbadia-Effekt

Der Einsatz ist hoch, das haben die Ausführungen des Vorstandsvorsitzenden wiederholt deutlich gemacht. Ein erneuter Abstieg wäre für den Klub schwer zu verkraften, ein neuerlicher Kaderumbruch wohl unvermeidlich.

Noch zeigen sich die Verantwortlichen überzeugt, dass die getroffenen Maßnahmen Wirkung zeigen werden, aber mit jedem weiteren Spieltag ohne dreifachen Punktgewinn verschärft sich die Lage.

Schauen wir uns die Bilanz des neuen Cheftrainers einmal genauer an. Mutigen Auftritten bei den Auswärtsspielen in Leipzig und Freiburg stehen durchwachsene Leistungen gegen Mainz und Hoffenheim sowie herbe Enttäuschungen gegen Bremen und Schalke gegenüber. Der einzige Sieg gelang im Heimspiel gegen Köln.

Mit nur 5 Punkten aus 7 Spielen ist der erhoffte Umschwung ausgeblieben. Mindestens 15 Punkte wird der VfB aus den verbleibenden 12 Spielen brauchen, um das Saisonziel zu erreichen. Das entspricht einem Punkteschnitt von 1,25. Momentan liegt Labbadia bei schwachen 0,71 Zählern pro Spiel.

Probleme in allen Mannschaftsteilen

Trotzdem habe sich im Spiel der Mannschaft einiges verbessert, behaupten nicht nur die Verantwortlichen. Betrachtet man Spieldaten, die defensive Stabilität untermauern können, sind unter Labbadia tatsächlich Fortschritte zu erkennen. Seit er den Trainerposten übernommen hat, ließ die Mannschaft im Schnitt nur noch 11,2 Schüsse auf das eigene Tor (Matarazzo 12,9, Wimmer 13,3) und 4,2 gegnerische Torchancen zu (Matarazzo 5,1, Wimmer 5,3). Die Laufleistung hat sich von durchschnittlich 111,5 km unter seinen Vorgängern auf 116,6 km erhöht.

Der Haken an der Sache: In der entscheidenden Defensiv-Statistik, nämlich den durchschnittlich kassierten Gegentoren, machen sich Labbadias Maßnahmen nicht bemerkbar (Labbadia 1,57, Matarazzo 1,56, Wimmer 2,17) – zumindest wenn man die Gegentorflut unter dem Interimstrainer ausblendet. Gegen Schalke patzten ausgerechnet Spieler, die beim Trainer als sichere Bank gelten. Anton ließ sich vor dem 1:0 von Matriciani und Frey düpieren, Mavropanos war bei beiden Gegentoren nicht gut positioniert und Sosa sah gegen Drexler und Zalazar aus wie ein Anfänger. Dass für die beiden Letztgenannten sowie Jung-Nationalspieler Ito im Winter jeweils ein Angebot in zweistelliger Millionenhöhe vorlag, mag den Kassenwart freuen, hilft dem VfB aber nur dann weiter, wenn die drei in den verbleibenden Spielen zu ihrer Bestform finden. Der Klassenerhalt ist gerade finanziell ein absolutes Muss.

Auch in den anderen Mannschaftsteilen gibt es immer noch Baustellen. Mit dem Abgang von Ahamada hat das Mittelfeld Geschwindigkeit und Torgefahr eingebüßt. Karazor, Endo und Haraguchi bilden zwar eine solide Dreierreihe, machen das Spiel aber zu selten schnell. Im Angriff bedeutet der Ausfall von Guirassy eine erhebliche Schwächung. Weder Silas noch Pfeiffer erreichen als Sturmspitze Bundesliganiveau. Auf den offensiven Außenpositionen gibt es neben Führich zwar einige personelle Alternativen, so richtig überzeugt hat aber bisher keine. Die VfB-Offensive strahlt insgesamt zu wenig Torgefahr aus.

Was heißt denn hier Qualität?

Ob dem Kader Qualität fehlt, gilt inzwischen als Glaubensfrage. Immerhin ist für seine Zusammenstellung maßgeblich der Ex-Sportdirektor verantwortlich. Kaderwerte und Gehaltskosten werden verglichen, Transfererlöse und Nominierungen für die Nationalmannschaft aufgerechnet. Fazit: Auf dem Papier ist der VfB eher besser besetzt als die meisten Konkurrenten im Abstiegskampf.

Das Problem liegt darin, dass die Mannschaft auf neuralgischen Positionen schwächelt und sich mit individuellen Aussetzern immer wieder selbst Eier ins Nest legt. Die Konkurrenz zeigt sich da effizienter: Schalke hielt unlängst vier Spiele lang die Null und Augsburg gewann seine letzten vier Heimspiele jeweils mit 1:0.

Fehlende Qualität bedeutet eben nicht unbedingt, dass ein Spieler kein Talent besitzt oder dauerhaft schlecht spielt. Mangelnde Konstanz ist auch ein Qualitätsproblem, wenn sich Wohlgemuth auch noch so sehr windet. Beim VfB haben zuletzt immer wieder vermeintliche Leistungsträger gepatzt. Spieler, denen niemand eine grundsätzliche Qualität absprechen würde. Im Abstiegskampf geht es darum, die Nerven zu bewahren und es jedem Gegner so schwer wie möglich zu machen. In dieser Hinsicht muss Labbadias Mannschaft noch viel lernen.  

Berliner Karnevalsscherz

Wenn man sich unter VfB-Fans umhört, gibt es viele, die der Entwicklung junger Talente Wohlwollen entgegenbringen. Mit ihren strategischen Entscheidungen hat die Führung diesen Weg – zumindest vorübergehend – verlassen, um die Chancen auf den Klassenerhalt zu erhöhen. Gegen Schalke lag das Durchschnittsalter der Startelf bei über 26 Jahren. Von einer jungen, unerfahrenen Mannschaft kann also keine Rede mehr sein.

Alexander Wehrle bei der Vorstellung der neuen Verantwortlichen am 12. Dezember. (Foto: IMAGO/Pressefoto Baumann via sport.de)

Bis zu Fabian Wohlgemuth scheint sich das nicht herumgesprochen zu haben. Überhaupt waren seine Aussagen nach der Schalke-Pleite offensichtlich nicht abgestimmt. Stuttgart ist nicht Paderborn, möchte man ihm zurufen. Gerade nach Enttäuschungen wie am Samstag legen die Fans jedes Wort auf die Goldwaage. Da muss sich ein Sportdirektor genau überlegen, wie er sich äußert.

Die Mannschaft sei von der Wucht der Schalker überrascht gewesen, spricht die angebliche Wunschlösung von Wehrle und Khedira in die Mikrofone. Soll das ein Berliner Karnevalsscherz sein, Herr Wohlgemuth? Sie beschäftigen ein Trainerteam und einen Leiter Lizenzspielerabteilung mit insgesamt knapp tausend Bundesligaspielen auf dem Buckel und erzählen uns, dass die Mannschaft von der Intensität der Schalke-Arena überrumpelt worden sei? Vielleicht können die Verantwortlichen ja die Dringlichkeit der Situation nicht vermitteln. Oder die Spieler sind dem Druck im Abstiegskampf nicht gewachsen – womit wir wieder bei der Qualität wären. Altbekannte Probleme setzen sich jedenfalls auch unter der neuen Führungsriege fort. Die peinliche 0:2-Niederlage in Berlin im April 2022 lässt grüßen.

Zeit für Siege

Es ist müßig, über die Qualität des Kaders oder die Trainerwahl zu streiten, solange der VfB am Abgrund taumelt. Der Blick aufs Restprogramm ruft in Erinnerung, dass möglichst schnell Siege her müssen. Die kommenden Gegner aus München und Frankfurt wird es wenig interessieren, dass Alexander Wehrle keinerlei Zweifel an der Richtigkeit seiner Entscheidungen hegt. Mit dem Rücken zur Wand stehen wir spätestens seit vergangenem Samstag nicht mehr. Jetzt sitzen wir mit dem Arsch in der Pfütze.

Zum Weiterlesen:

Eine Mannschaft, die mit sich selbst kämpft – Vertikalpass

Der mit der Mannschaft kämpft – Vertikalpass

Statistik-Check zum VfB Stuttgart: Wo sich der VfB unter Labbadia verbessert hat – und wo nicht (stuttgarter-nachrichten.de)

Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.