Michis Pizza-Kniff
Als am Montag vor einer Woche Pellegrino Matarazzo entlassen wurde, befand sich die Stimmung an der Mercedesstraße am Tiefpunkt. Die Trennung von dem allseits geachteten Cheftrainer tat nicht nur weh, man musste auch befürchten, dass die Mannschaft in der folgenden englischen Woche ohne ihren Vordenker untergehen würde.
Zehn Tage später reiben wir uns verwundert die Augen, wie befreit die Spieler plötzlich auftreten. Was hat Michael Wimmer bloß mit der Mannschaft gemacht? Oder hat der frühere Assistent schlicht eine Glückssträhne? Seine Startbilanz mit zwei Siegen und 10:1 Toren erinnert jedenfalls an Willi Entenmann, der 1986 gleich seine ersten sieben Spiele gewinnen konnte.
Freigestrampelt
Am besten lässt sich die momentane Gefühlslage beim VfB mit unserer Nummer 14 illustrieren. Obwohl Silas in der zweiten DFB-Pokal-Hauptrunde vieles misslingt, hat er einen Riesenspaß bei der Arbeit. Eine Sosa-Flanke wuchtet der Publikumsliebling in der 39. Minute mit vollem Risiko ins Tor. Selbst als er in der zweiten Halbzeit den Rückraum nach einem eigenen Eckstoß absichert, trägt er ein breites Lächeln auf dem Gesicht.
Enzo Millot steht ebenfalls sinnbildlich für den überraschenden Aufschwung. Erst 179 Minuten stand er für den Brustring auf dem Platz, bevor er unter Interimstrainer Wimmer zu seinen ersten beiden Startelfeinsätzen kommt und gleich weitere 137 Minuten sammelt. Der 20-jährige Franzose bringt eine bemerkenswerte Ballsicherheit und ein gutes Spielverständnis mit. Qualitäten, die er nach längerer Anlaufzeit in Bad Cannstatt nun zum ersten Mal in einer Hauptrolle zeigen darf.
Auch Chris Führich und Luca Pfeiffer wirken am Mittwochabend wie aufgeputscht. Nachdem sie im bisherigen Saisonverlauf manchmal unglücklich agierten, führen sie der Arminia-Abwehr jetzt vor, mit welchem Tempo und welcher Effizienz eine Klasse höher gespielt wird. Das Pokalspiel ist nach dem ersehnten ersten Saisonsieg in der Liga eine weitere kollektive Befreiung. Kombinationen, Spielfreude, tolle Tore – wann haben die VfB-Fans das zuletzt gesehen?
Wimmers glückliches Händchen
Über seinen ehemaligen Chef kommt Michael Wimmer kein kritischer Ton über die Lippen. Wenn man dem Interimstrainer zuhört, hat man den Eindruck, dass er am liebsten gar nichts verändern würde. Und doch hat er offensichtlich etwas anders gemacht.
Vielleicht ist es die Schlichtheit, mit der er seine Ideen vermittelt. Für den Sieg gegen Bochum gab es ein Lob und eine Runde Pizza. Entgegen der Expertenprognosen bekommen gegen Bielefeld Pfeiffer und Tomás erneut das Vertrauen, während der höher gehandelte Guirassy auf der Bank Platz nehmen muss. Endo darf wieder auf der Sechs abräumen und den Spielaufbau initiieren. Stenzel sichert auf der rechten Seite Silas´ Kapriolen ab. Man würde sich nicht wundern, wenn der Niederbayer seinen Spielern die einfache Weisung mit auf den Weg gegeben hätte: „Geht´s raus und spuits Fußball.“
Dass die beiden Siege auf die Genialität des neuen Chefs auf der Trainerbank zurückzuführen sind, glauben die Wenigsten. Der Stimmungsaufschwung kommt den Verantwortlichen jedoch sehr gelegen. Solange „der Michi“ erfolgreich ist, kann man sich in Ruhe nach einem passenden Kandidaten umschauen. Aus einem schlecht vorbereiteten und kommunizierten Trainerwechsel wird so eine gelungene Maßnahme gegen den Abwärtstrend. Das nennt man wohl „Momentum“.
Stichtag 12. November
Thorup oder Schreuder? Im Internet kann man schon seit Tagen darüber abstimmen, welcher Trainer einem als Matarazzo-Nachfolger lieber wäre. Die Tatsache, dass bisher keiner der beiden offiziell als neuer Mann an der Seitenlinie präsentiert wurde, lässt auf Komplikationen bei den Gesprächen schließen. Ob die beiden kolportierten Anwärter überhaupt in der Lage wären, die komplexe Situation beim VfB zu lösen, ist mit Blick auf ihre letzten Stationen auch nicht so eindeutig beantworten.
Nach den beiden Wimmer-Siegen steht allerdings eine weitere Wette hoch im Kurs. Darf der Interimstrainer die verbleibenden fünf Spiele vor Katar (Dortmund, Augsburg, Gladbach, Hertha und Leverkusen) noch in verantwortlicher Position bestreiten? In diesem Fall hätten Wehrle, Mislintat und Co noch ein paar Wochen Zeit, den Vertrag mit dem künftigen Cheftrainer einzutüten.
Die Entlassung von Matarazzo und die darauf folgenden Spiele haben vor allem eines gezeigt: Einschätzungen und Prognosen können sich innerhalb kürzester Zeit als falsch herausstellen oder sogar ins Gegenteil verkehren. Wer auch immer also in Zukunft die Mannschaft anleitet, sollte vor allem gute Nerven mitbringen – und einen zuverlässigen Pizza-Lieferanten.
VfB Stuttgart – DSC Arminia Bielefeld 6:0
Zum Weiterlesen:
Tut gut – Rund um den Brustring
reybucanero74
Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson