Die Kunst des Eins-zu-Null
Vor gerade einmal zehn Tagen war es so weit: Der VfB besiegte Union Berlin zum ersten Mal in der Bundesliga. Am Dienstagabend gelingt nun auch der erste Sieg im DFB-Pokal. Das Fazit fällt ähnlich aus: Die Schwaben kontrollieren das Spiel und lassen kaum Torchancen zu. Auch wenn Urs Fischer „ein ausgeglichenes Spiel mit Chancen auf beiden Seiten“ gesehen haben will, spricht die Statistik eine andere Sprache: 16:7 Torschüsse, 679:386 gespielte Pässe – und 1:0 nach Toren.
Italienische Schule
In der italienischen Fußballschule gehört es zum kleinen Ein-mal-eins, große Mannschaften beherrschen es aus dem Eff-eff, und Union Berlin qualifizierte sich letztes Jahr dank vier Siegen mit diesem Ergebnis für die K.O.-Phase der Europa League: das Eins-zu-Null. Für Statistiker ist es der knappste aller möglichen Siege, Trainer freuen sich über die gehaltene Null und Torhüter feiern das Shutout. Nur die Zuschauer mögen es nicht besonders. So viel Brimborium und dann nur ein einziges Tor?
Der VfB war zuletzt nicht gerade als 1:0-Spezialist bekannt, obwohl man in der vergangenen Saison immerhin im DFB-Pokal-Viertelfinale in Nürnberg und in der ersten Runde in Dresden mit diesem Ergebnis gewinnen konnte. In der Bundesliga liegt der letzte 1:0-Sieg mehr als zweieinhalb Jahre zurück (im April 2021 gegen Bremen). Die Weiß-Roten waren einfach zu schusselig für das Minimalisten-Resultat. Ungern erinnern wir uns an den Bundesliga-Rekord aus der Vorsaison mit den meisten Heimspielen nacheinander, in denen immer ein Gegentor fiel.
Doch die Zeiten haben sich geändert. In der laufenden Runde hat das Team von Sebastian Hoeneß schon vier Mal die Null gehalten, plus zwei Mal im Pokal. Spötter sagen, es liege daran, dass man endlich wieder mit Torwart spiele, aber die Wahrheit ist wohl komplexer. So fliegt Laidounis Hammer in der 28. Minute nicht ins Kreuzeck sondern an den Querbalken. Überhaupt haben die Unioner seit dem 7. Oktober kein Tor mehr geschossen. Hinzu kommt, dass Kapitän Anton und Co. die groben Abwehrschnitzer deutlich reduziert haben. In der zweiten Runde des DFB-Pokals gehören die Verteidiger wieder zu den Besten im Brustring.
Von Torjägern und Tollpatschen
Als Matchwinner darf sich aber völlig zurecht Deniz Undav feiern lassen. Der 27-jährige Niedersachse mit türkischen Wurzeln kommt gar nicht mehr aus dem Grinsen heraus. Als Vertreter des verletzten Serientorschützen Guirassy hat der Neuzugang von Brighton & Hove Albion am vergangenen Samstag noch mit den vergegebenen Chancen gehadert, vier Tage später reicht sein Abstauber in der 45. Minute zum Einzug ins Achtelfinale.
Gästetrainer Fischer äußert sich nach Spielende stocksauer über die Entstehung des entscheidenden Treffers. Der VfB fängt einen Berliner Angriff ab, Jeong und Stiller spielen in der eigenen Hälfte doppelten Doppelpass, bevor die Stuttgarter Nummer sechs Hiroki Ito mit einem präzisen Vertikalpass auf die Reise schickt. Dessen Flanke auf den zweiten Pfosten kontrolliert Jamie Leweling zwar, das folgende Schüsschen mit der Innenseite kann Rönnow aber abwehren. Der Rest ist für einen wie Deniz Undav reine Routine.
Nach dem 2:3-Anschlusstreffer gegen Hoffenheim ist das schon die zweite ungewollte Co-Produktion der beiden Neuzugänge. Unterschiedlicher können zwei Offensivspieler kaum sein: auf der einen Seite Mister Effizienz, der Abstauber, der Wühler – auf der anderen Seite Mister Chancenwucher, der Tollpatschige, der schneller ist als der Ball.
Leweling verkörpert vieles von dem, was der VfB nach den Erfahrungen der letzten Jahre eigentlich nicht mehr will: viel Aufwand für wenig Ertrag. Seine Torabschlüsse sind so unentschlossen, so schlecht platziert, dass immer noch jemand ein Körperteil dazwischen bekommt. Undav agiert dagegen so, wie sich ein zu spät Geborener Gerd Müller vorstellt: Arsch raus, Drehung und rein das Ding. Er ist ein Torjäger im Wortsinne. Einer, der nicht ruht, bis er den Ball versenkt hat.
Pokalnächte
Seit der unnötigen Niederlage gegen Zuzenhausen Süd sind die Champions-League-Träume erst einmal ausgeträumt. Eine ruhige Saison im Mittelfeld, wird immer realistischer. Nach den Herschlagfinals der letzten Jahre tut uns die Ruhe zwar gut, aber gegen ein bisschen Abwechslung hat trotzdem keiner etwas einzuwenden.
Da bekommt der DFB-Pokal plötzlich wieder eine andere Bedeutung. Die Atmosphäre beim Viertelfinal-Sieg in Nürnberg und bei der knappen Halbfinal-Niederlage gegen die Eintracht hat uns daran erinnert, wie stimmungsvoll Pokalnächte sein können. Am Sonntag wird das DFB-Pokal-Achtelfinale ausgelost. Die VfB-Fans hätten gegen ein weiteres Heimspiel sicher nichts einzuwenden, auch nicht gegen einen weiteren Sieg mit dem knappsten aller möglichen Ergebnisse. Die einfache Rechnung: Noch vier Mal 1:0 und der VfB ist nach 27 Jahren wieder deutscher Pokalsieger.
VfB Stuttgart – Union Berlin 1:0
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reybucanero74
Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson