Zurück auf Los
Es soll ja Leute geben, die schon seit Alexander Wehrles Amtsantritt tagtäglich auf die Vertragsverlängerung mit Sven Mislintat hinfiebern. Nach langen acht Monaten ist die Katze nun endlich aus dem Sack. Allerdings nicht mit dem erhofften Ergebnis. Einer der Architekten der jungen Wilden 2.0 nimmt das Vertragsangebot des Vorstands nicht an und verlässt den Klub. Oder wie der Boulevard titelt: „VfB feuert Sportdirektor Mislintat!“
Damit steht man am Neckar neun Tage vor Beginn der Wintervorbereitung ohne Sportchef und ohne Trainer da – zumindest ohne einen, dem man den Klassenerhalt ernsthaft zutrauen würde. Ein Traumszenario sieht anders aus. Ein Außenstehender könnte vermuten, dass unglückliche Umstände und unvorhersehbare Entwicklungen an diesen kritischen Punkt geführt hätten. Doch weit gefehlt. Es scheint eher so, als habe sich der VfB sehenden Auges in diese missliche Situation manövriert. Wie ein kleines Kind, das so lange am Tischtuch zieht, bis die teure Vase schließlich auf dem Boden zerschellt.
Mythos Mislintat
Kaum ist der ehemalige Scout von Borussia Dortmund und Arsenal FC wieder auf dem Markt, ploppen erste Gerüchte auf: Mislintat bei Liverpool im Gespräch? Wenn es nach seinen treuen Fans geht, wäre er für so ziemlich jeden Job im Fußballuniversum die Bestbesetzung. Der Mythos Mislintat erreicht dieser Tage seinen vorläufigen Höhepunkt. Auf Internetplattformen verlieren erwachsene Menschen derart die Contenance, dass man sich manchmal ein bisschen mitschämt.
Die sachliche Bewertung seiner Arbeit beim VfB zeigt Licht und Schatten. Als er im Mai 2019 sein Amt antritt, befindet sich der Kader in desolatem Zustand. Gemeinsam mit Hitzlsperger stellt der Sportdirektor eine Mischung aus ehrgeizigen Spielern mit unkonventionellem Karriereweg und jungen Nachwuchstalenten aus dem Ausland zusammen. Die Mannschaft macht den Fans nach dem bleischweren Fußball der Abstiegssaison endlich wieder Spaß.
Doch in der Saison 21/22 gerät der Motor ins Stottern. Die Balance im Kader geht sukzessive verloren. Phasenweise tummeln sich über 30 Spieler auf dem Trainingsplatz – am Wochenende sitzen viele von ihnen nicht einmal auf der Ersatzbank. Statt Entwicklungssprüngen beobachten wir Stagnation. Auch die große Analyse nach der Last-Minute-Rettung gegen Köln zeigt keine Wirkung.
Schließlich muss Mislintat schweren Herzens seinen Cheftrainer entlassen. Die öffentlichen Äußerungen wirken zunehmend erratisch. Zunächst setzt er auf eine schnelle Nachfolgelösung, kurze Zeit später wirft er sich für den Co-Trainer in die Bresche. Auch seine Spieler verteidigt der Sportdirektor in der Öffentlichkeit wie das letzte Hemd. Wenige beherrschen das Prinzip Wagenburg so perfekt wie er. Nur dass die Anzahl der Personen im inneren Zirkel mit der Zeit immer kleiner wird und immer weniger Leute daran glauben, dass seine „Top-Jungs“ mit dem „Top-Kandidaten“ Wimmer auf der Trainerbank den Aufgaben gewachsen sind.
Gescheiterte Verhandlungen
Als am Mittwoch die Meldungen über die Trennung von Mislintat über die Ticker laufen, ist wohl niemand mehr überrascht. Spätestens seit dem 21. März, dem Tag seines Amtsantritts, weiß Alexander Wehrle, dass die schwierigen Vertragsverhandlungen mit dem Sportchef anstehen. Acht Monate hat der neue Vorstandsvorsitzende also Zeit, einen gemeinsamen Weg auszuloten. Dreht er so viele Volten, interviewt sich selbst und gibt widersprüchliche Pressemeldungen heraus, um Ende November zu verkünden, dass man sich überraschenderweise bei der Vertragsgestaltung uneins war?
Die Knackpunkte der Verhandlung pfeift man seit Wochen im ganzen Ländle von den Dächern. Mislintat möchte nicht auf seine Sonderrechte verzichten und Wehrle will seinerseits das Ressort Sport auf eine breitere Basis stellen. Habt ihr auch erwartet, dass sich die beiden wie ernstzunehmende Geschäftsleute zusammensetzen und im Sinne des Klubs – der sie übrigens ziemlich üppig dafür entlohnt – eine tragfähige Lösung finden? Wir werden enttäuscht.
Die lange aufgeschobenen finalen Gespräche scheitern nämlich am Unwillen der Protagonisten, Zugeständnisse zu machen. Mislintat postet auf Instagram noch einen Scherenschnitt seines Konterfeis und reitet in den Sonnenuntergang. Wehrle ruft ihm hinterher „Du hast ein marktgerechtes Angebot ausgeschlagen!“, und sieht dabei gar nicht gut aus.
Wo ist der Plan?
Da steht er nun also, der neue VfB-Boss mit seinen namhaften Beratern und dem künftigen Leiter der Lizenzspielerabteilung, dessen Aufgabenprofil er bisher keinem erklären kann. Überhaupt bemüht man sich vergeblich, eine Strategie hinter seinem Wirken zu erkennen.
An der Entlassung von Pellegrino Matarazzo war er als Sportvorstand maßgeblich beteiligt, hatte dann aber unglücklicherweise keinen Nachfolger zur Hand. Co-Trainer Wimmer müsste zu Weihnachten einen gigantischen Geschenkkorb aus der Mercedesstraße bekommen, weil er zumindest die neun Punkte aus den eminent wichtigen Heimspielen gegen Bochum, Augsburg und Hertha eingefahren hat.
Nach acht Monaten Amtszeit wissen wir ziemlich genau, was Wehrle nicht will. Nun muss der neue AG-Chef möglichst schnell und überzeugend erklären, was er denn mit dem VfB vorhat. Möchte er den bisherigen Kurs im Grundsatz weiterverfolgen? Welche Korrekturen sind bei der Kaderzusammenstellung notwendig? Welche Anforderungen soll der neue Trainer erfüllen? Oder – leider muss man sich diese Frage ernsthaft stellen – gibt es gar keinen Plan?
Posse um ein Rechtsgutachten
In Zeiten, in denen die ausgegliederte Fußball AG stolpert und wankt, wäre es wichtig, einen stabilen Verein an der Seite zu haben. Doch bedauerlicherweise wurde kürzlich bekannt, dass sich in den Vereinsgremien wieder einmal Unheil zusammenbraut.
Der in der Öffentlichkeit vorgeschobene Grund: die Nebentätigkeit des Vereinsbeirats Marc Nicolai Schlecht als Arzt der Frauenmannschaft. Der einstige Präsidentschaftskandidat Steiger hat sich der Sache angenommen und – ganz uneigennützig natürlich – ein externes Rechtsgutachten in Auftrag gegeben. Verdacht auf Satzungsverstoß. Auch bei Schlechts Beiratskollegen Professor André Bühler wird ermittelt. Als akademischer Leiter des VfB-Masters an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen (HfWU) soll er laut Steigers Gutachten ein satzungswidriges Geschäftsverhältnis mit der VfB AG pflegen.
So weit, so unbedeutend für das große Ganze, sollte man meinen. Doch der Verein verstrickt sich bei seiner öffentlichen Stellungnahme in Widersprüche: Schlecht habe seine Tätigkeit bei der 1. Frauenmannschaft beendet, „um jegliche Diskussionen zu vermeiden“, heißt es da. Dabei geben selbst die unmittelbar Betroffenen zu, dass dieses Thema intern schon seit Längerem diskutiert wird und Steigers Initiative nicht der Auslöser für die Beendigung der Nebentätigkeit war. Will der Verein vertuschen, dass die Übernahme der Frauenmannschaft in die AG unzureichend vorbereitet war? Oder geht es eher darum, Steiger und seine Informanten aus dem Innersten des Vereins schlecht aussehen zu lassen?
Die lokale Presse berichtet bereits fleißig über die Posse, ist aber noch nicht zum Kern des Zwists vorgestoßen. Im Präsidium soll es Unstimmigkeiten geben und auch der Vereinsbeirat wird wieder lustvoll in Lager eingeteilt. Der Verdacht liegt nahe, dass weder der VfB-Master noch die Frauenmannschaft etwas mit dem Konflikt zu tun haben. Vielmehr geht es um Macht und Einfluss.
Unter anderem hat offensichtlich so manche Entscheidung rund um die Neubesetzung des Aufsichtsrats Gräben gerissen, die erneut zu Spannungen im Verein führen. Dass dabei der Name Steiger auftaucht, ist sicher kein Zufall, genausowenig wie die Tatsache, dass plötzlich wieder alte Bekannte Morgenluft wittern. Kaum ein Zeitpunkt wäre wohl besser geeignet, die Machtverhältnisse im Klub zu verändern, als eine Phase, in der sowieso schon alles wackelt und die Fanseele kocht. Die handwerkliche Umsetzung eines solchen Spins – verrückte Idee, ich weiß – könnte ja ein halbseidener Marketingberater in den Fokus nehmen.
Führung ist gefragt
Der Zustand des VfB als Ganzes muss einem drei Wochen vor Weihnachten wirklich Sorgen machen. Nicht dass der Mislintat-Abgang an sich ein unlösbares Problem darstellen würde, aber der ungeschickte Umgang mit der Personalie und das Fehlen einer überzeugenden Strategie für die Zukunft lassen Zweifel aufkommen.
Einen weiteren Machtkampf im Verein kann sich der Klub erst recht nicht leisten. Es ist an der Zeit, dass die Führungskräfte in AG und eV ihrem Namen Ehre machen und den VfB aus dieser schwierigen Situation führen. Denn nach dreieinhalb Jahren, die von Hitzlsperger, Mislintat und Matarazzo geprägt waren, heißt es am Neckar wieder einmal: Gehen Sie zurück auf Los.
Zum Weiterlesen und Weiterhören:
Marktgerecht – Rund um den Brustring
Ganz großes Kino: Mislintat vs. Wehrle wird verfilmt! – Vertikalpass
reybucanero74
Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson