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Was wollen wir trinken?

Nach Spielende herrscht auf der Mercedesstraße eine fröhliche Stimmung. Ein Dudelsack-Spieler intoniert ein altes bretonisches Volkslied, ausgelassene VfB-Fans tanzen im Kreis und singen die Melodie, mit der sie vor wenigen Minuten die Mannschaft vor der Kurve gefeiert haben. Vom Cannstatter Wasen funkeln die Lichter des Volksfests herüber.

Was wollen wir trinken sieben Tage lang?
Was wollen wir trinken? So ein Durst

(Songtext: Bots – Sieben Tage lang, 1980)

Was macht den neuen VfB unter Sebastian Hoeneß aus? Diese Frage haben sich in den letzten Tagen viele Beobachter gestellt. Vielschichtig sei die Antwort, lautet der Tenor. Oder doch nicht? Um den Namen Serhou Guirassy kommt man bei der Erklärung des besten Saisonstarts seit 1996 jedenfalls nicht herum. Oder wie der Vertikalpass staunend feststellt: „(…) zehn Tore nach fünf Spielen. Niemand in der VfB-Geschichte hat so etwas geschafft. Kein Karl Allgöwer, kein Giovane Elber, kein Mario Gomez. Fredi Bobic und Kevin Kuranyi sowieso nicht.“

Feste muss man feiern, wie sie fallen. (Foto: twitter.com/Johannes_VfB_)

Rückstand – na und?

Als Dan-Axel Zagadou in der 17. Minute eine eigentlich ungefährliche Hereingabe von Tim Skarke ins eigene Tor grätscht, ist es für einen Moment ganz still im ausverkauften Neckarstadion. Frühe Gegentore, die unsere Mannschaft lähmen, kennen wir aus den letzten Jahren zur Genüge. Doch an diesem Freitagabend scheint es, als habe Murphy´s Law seinen Schrecken in Cannstatt verloren. Kaum ist der Ball wieder im Spiel, setzen die Anfeuerungsrufe ein, und die Spieler im Brustring lassen selbigen zirkulieren, als sei nichts gewesen.

Ist das die neue Widerstandsfähigkeit, die Sportdirektor Wohlgemuth in der Saisonanalyse gefordert hat? Schon in Mainz gelang es der Mannschaft von Sebastian Hoeneß, die Drangphase der Hausherren nach dem Ausgleich zu beenden und selbst wieder das Steuer zu übernehmen. Gegen den Aufsteiger aus Darmstadt dauert es nur fünf Minuten, ehe Enzo Millot eine schöne Kombination über Stenzel und Guirassy mit dem 1:1 krönt. Zweifel? Verunsicherung? Es scheint, als habe die sportliche Leitung den Spielern über die Sommerpause alle Ängste genommen. Das Publikum spürt das neue Selbstbewusstsein, die breite Brust unter dem Brustring. Auf den Rängen wird geflachst, dass man dieses Mal eben mit einem 5:1 vorliebnehmen müsse.

Enzo Millot weiß, bei wem er sich bedanken muss. (Foto: AFP/Thomas Kienzle)

Auch wenn sich Gästetrainer Lieberknecht im TV-Interview über den Kölner Keller beschwert, ist seine Mannschaft mit dem 3:1 am Ende gut bedient. Der Aufsteiger aus Südhessen schafft es zwar über weite Strecken, die Räume eng zu halten und energische Zweikämpfe zu führen, gegen das Kombinationsspiel und die individuelle Klasse der Heimmannschaft können die Lilien aber nichts ausrichten. Führich (63.), Guirassy (67.), Millot (69.) und Undav (80.) hätten das Spiel schon früher entscheiden müssen.

Stenzelinho und Co.

Im Vorfeld einer Saison übertreffen sich die Kommentatoren ja gerne mit so genannten „Hot-Takes“, gewagten Thesen also. Ich wurde für die nicht ganz ernst gemeinte Prognose belächelt, dass sich Pascal Stenzel in der Mannschaft festspielen würde. Doch siehe da: „Calle“ ist nicht nur Stammspieler sondern am Freitag auch an allen Toren beteiligt. Den entscheidenden Treffer in der Nachspielzeit bereitet er mit einem Steckpass vor, der nicht von einem latent unterschätzten Rechtsverteidiger zu stammen scheint sondern von Stenzelinho, dem Ballzauberer.

Apropos Magie: Wann hatte der VfB zuletzt einen Spieler von einer solchen Leichtigkeit und Eleganz wie Enzo Millot? Der Lockenkopf und die geschmeidigen Bewegungen erinnern an Krisztián Lisztes, der einst zum ungarischen Balakov werden sollte – und an dieser Bürde scheiterte. Der junge Franzose scheint den Schritt vom vielversprechenden Talent zum Leistungsträger inzwischen vollzogen zu haben. Fleißig, kreativ und torgefährlich blüht der Edeltechniker mit den Strategen Karazor und Stiller im Rücken endgültig auf. Trotzdem ist noch genug Luft nach oben: Torchancen wie die Guirassy-Ablage in der zweiten Halbzeit sollte Millot künftig nutzen und insgesamt noch etwas zielstrebiger zu Werke gehen. Das Potenzial für den ersten echten Zehner seit Balakov ist aber zweifellos vorhanden – obwohl die Acht auf seinem Trikot steht.

10 Tore aus 5 Spielen: Guirassy ist der Mann der Stunde. (Foto: Julia Rahn/Imago)

Wo wir gerade schon bei Lobeshymnen sind, darf einer natürlich nicht fehlen. SERHOU GUIRASSY schallt es am Freitag so laut durchs Neckartal, dass auch der letzte versteht: Der 27-jährige Stürmer ist schon nach gut einem Jahr im Brustringtrikot eine echte Marke. Als Kalajdzic-Ersatz verpflichtet ohne je zuvor als eiskalter Knipser in Erscheinung getreten zu sein, übertrifft er seither alle Erwartungen. Mit einer beeindruckenden Selbstverständlichkeit macht der Auswahlspieler Guineas Tore aus allen möglichen und unmöglichen Positionen. Ballannahme, Drehung, Vollspannstoß unters Tordach: He scores when he wants. Aber nicht nur das. Guirassy ist innerhalb kürzester Zeit zum Dreh- und Angelpunkt des VfB-Spiels geworden. Er leitet seine Nebenleute an, lässt sich fallen, um den Spielaufbau zu unterstützen, und schließt auch defensiv Lücken, wenn es sein muss.

Nur ein Lauf?

Ist dieser neue VfB wirklich so gut oder hat er nur einen Lauf? Völlig zurecht stellt Christoph Kneer in der SZ diese Frage. Die 12 Punkte resultieren sicher aus einem machbaren Auftaktprogramm, aus Siegen gegen Gegner, für die jetzt schon der Abstiegskampf begonnen hat. Dementsprechend müssen sich die Großkopferten der Liga keine Sorgen machen und auch nicht beleidigt sein, dass ihnen eine Fahrstuhlmannschaft die Show stiehlt. Sebastian Hoeneß wird inzwischen nicht müde, Demut zu predigen. Offensichtlich hat man im roten Klubhaus aus der Misere der letzten Jahre doch etwas gelernt.

Es wird genug für alle sein
Wir trinken zusammen, roll das Fass mal rein
Wir trinken zusammen, nicht allein

(Songtext: Bots – Sieben Tage lang, 1980)

Die Fans kümmert das alles nicht. Sie feiern den Augenblick des Glücks, solange noch zu trinken da ist. Als altgedienter Brustringträger weiß man nämlich ganz genau, wie sich ein stürmischer Herbst anfühlt, wie man sich als Klub über die Weihnachtszeit selbst zerlegt, oder wie man nach der Winterpause so richtig ins Trudeln gerät. Aber wer denkt schon gerne an Frost, solange die Septembersonne die Haut streichelt?

Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson

Ein Kommentar

  • Kerstin Stütz

    Hallo Rey, ich habe diesen Artikel mit großem Vergnügen gelesen.
    Kurzweilig, informativ und dennoch merkt man dir die Freude über unseren aktuellen VfB an.
    Ich freue mich mit dir. Sehr.

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