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Oh Wehen!

Hinter dem Bahnhof Cannstatt trennen sich die Wege: Karohemden rechts, Brustringe links. Zur besten schwäbischen Vesperzeit torkeln uns enthemmte Jugendliche mit glasigen Augen entgegen. Man ahnt, dass für manche der Abend schon gelaufen ist. Die Fußball spielenden Gäste aus der hessischen Hauptstadt haben ihren Höhepunkt dagegen noch vor sich: Fast fünfzigtausend Zuschauer sorgen im Neckarstadion für die größte Kulisse, vor der sie jemals auftreten durften. Außer dem Neuner, der schon sechsmal getroffen habe, kennt auch mein kundiger Nebensitzer auf Nachfrage „koi Sau“. Vorsichtshalber läuft der krasse Außenseiter daher als wandelnder Textmarker auf.

Wir lehnen uns zurück: Spitzenreiter gegen Schießbude, ein Abend wie gemalt für Wamangitukas Premierentor oder die Bestätigung der landläufigen Meinung, in der zweiten Liga mache ein Ex-Nationalspieler die Kisten noch nach Belieben. Entsprechend fällt auch die Begrüßung für den Helden der Stuttgarter Kinderherzen aus. „Unsere Nummer 27, Mario … GOMEZ! Sein erster Einsatz von Beginn an – da muss auch mein Nachbar überlegen – seit dem Saisonstart gegen Hannover?

Knapp zwanzig Minuten später kennt das ganze Stadion allerdings einen anderen Mittelstürmer: Manuel Schäffler aus Fürstenfeldbruck, Rückennummer 9, 30 Jahre alt, einst bei 1860 groß geworden. Acht Saisontore stehen inzwischen auf seinem Konto und die Herren Sosa, Karazor, Kempf und Kobel freundlicherweise Spalier. Vor allem auf die beiden erstgenannten schießt sich das Publikum schnell ein: Borna Sosa döst vor sich hin, als habe er den Mittagsschlaf nachzuholen. Atakan Karazor kommt nicht nur schwer in die Zweikämpfe, sondern verschleppt mit seinem Quergeschiebe auch immer wieder das Tempo. Dabei müssten gerade diese beiden um ihre Plätze kämpfen.

Aber machen wir uns nichts vor: Keiner aus Walters Team erreicht in der ersten Halbzeit auch nur annähernd Normalform. Der zwischenzeitliche Ausgleich ist in erster Linie der dusseligen Gästeabwehr zu verdanken, die im eigenen Strafraum nicht nur das Kopfballduell gegen Ascacibar (!) verliert, sondern danach zuerst Gomez (Luftloch) und anschließend Al Ghaddioui (Tor) den fast ungehinderten Abschluss erlaubt.

Die pomadige Spielweise des Tabellenführers ist schon erschreckend genug, schlimmer aber noch: Wo ist der Spielplan? Wer soll die beiden Ochsen im Straftraum bedienen? Wie will man die erwartet tief stehende Deckung der Gäste knacken? Mit Blick auf die kommenden Wochen muss diese Planlosigkeit Sorgenfalten bei den Verantwortlichen verursachen. Die Raute kann im Verbund mit den Außenverteidigern über die Flügel keine Überraschungsmomente erzeugen, im Zentrum fehlen Tempo und Ideen. Was sich das Trainerteam auch immer für dieses Spiel zurechtgelegt haben mag, es scheitert auf der ganzen Linie.

Die drückend überlegen geführte zweite Halbzeit mit 87% Ballbesitz, 21 Torabschlüssen und fünf Aluminiumtreffern weist dann zumindest auf den Statistikbögen standesgemäße Verhältnisse aus. Unter dem Strich müssen wir uns aber von einem Drittligaaufsteiger die schon in den vorherigen Saisonspielen gezeigten Schwächen vorführen lassen: Mangelnde Entschlossenheit im Torabschluss gepaart mit phasenweise vogelwildem Abwehrverhalten. Und die Erkenntnis, dass die bisherigen Gegner das nicht in letzter Konsequenz bestraft haben. Die Mannschaft ist noch lange nicht so weit, wie manche meinen, und die neue Spielweise birgt gerade für einen Aufstiegsaspiranten erhebliche Risiken.

Natürlich darf eine solche Niederlage trotz aller Peinlichkeit nicht als Maßstab für die Gesamtentwicklung des VfB in den letzten Monaten herangezogen werden. Aber gerade angesichts der schweren Aufgaben, die im Oktober bevorstehen, ist es an der Zeit, eine ernsthafte Warnung auszusprechen. Der altbekannte Schlendrian scheint auch in dieser völlig neu zusammengestellten Truppe noch zu gedeihen und einige Protagonisten sollten sich schleunigst gegen Selbstüberschätzung impfen lassen.  

Der zu Beginn der Partie so euphorisch empfangene Altstar aus Riedlingen pumpt nach Abpfiff auf jeden Fall gewaltig. Volle neunzig Minuten ist er schon lange nicht mehr gegangen. Aber wer so weit herumgekommen ist im Fußballzirkus, müsste wissen, was in diesem Moment angesagt ist. Wie wär´s zum Beispiel mit einem dicken Dankeschön an die enttäuschten Fans auf den Stehplätzen, die in der zweiten Halbzeit nochmal richtig Gas gegeben und so die Pfiffe von den teureren Tribünen übertönt haben?

Bezeichnenderweise ist es aber Gregor Kobel, der Leihspieler aus Hoffenheim, der die Mannschaft aufrüttelt und in die Kurve führt. „Kämpfen und siegen, niemals aufgeben!“ Man kann nur hoffen, dass die hochbezahlten Profis wissen, was diese Blamage für den weiteren Saisonverlauf und die erst langsam wieder wachsende Beziehung zu den Anhängern bedeutet. Den allermeisten der fünfzigtausend ist die Lust auf einen Wasen-Bummel zu diesem Zeitpunkt jedenfalls längst vergangen. Mit oder ohne Karohemd.        

VfB – SV Wehen-Wiesbaden 1:2

Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson

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