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Neue Normalität

Sie sind wieder da. Push-Meldungen vom Kicker. Fette Bundesliga-Schlagzeilen auf dem Ersatz-Klopapier aus dem Hause Springer. Die DFL und ihr Geschäftsführer Christian Seifert haben es tatsächlich geschafft, den ersten Corona-Spieltag unfallfrei über die Bühne zu bringen. Egal, ob du zu denen gehörst, die sich mit Graus abwenden, oder zu jenen, die sich ihren Spaß nicht verderben lassen wollen: Die Macht des Faktischen entwickelt ihre Wirkung.

Wir haben eine erste Corona-Tabelle. Die ausgedürsteten Sportjournalisten verteilen eilfertig Etiketten: Corona-Gewinner und Corona-Deppen. Letztere wurde eigens für Clubs wie den VfB oder Schalke 04 geschaffen. Im Ausland berichtet man währenddessen einigermaßen überdreht von „großartigen Partien“. Dreht sich das Rad jetzt einfach weiter und lässt uns Stadiongänger links liegen?

Das Konzept als Feigenblatt

Die Bundesliga-Lobbyisten beten einen Götzen an: das Hygienekonzept der DFL. Ähnlich viel Lob gab es vorher wohl nur für das Verhandlungsgeschick der DFB-Funktionäre bei der Einleitung des Sommermärchens. Die akribisch ausgearbeiteten Vorschriften sind jedoch in der Praxis ungefähr so wirksam wie einst die Mahnungen meiner Eltern, bei der Abi-Feier doch nicht so viel zu trinken. Jubeln per Ellbogen-Check? Deine Mudder, dachten die Spieler und knutschten sich gegenseitig ab. Ob vor Freude oder um der DFL den ausgestreckten Mittelfinger zu zeigen, sei einmal dahingestellt.  

Es wurde gerotzt und gespuckt, gerudelt und geschrien, dass das Aerosol nur so sprühte. Das Robert-Koch-Institut muss nach diesem Wochenende die Kontakte der Kategorie 1 neu definieren. Ich schätze, wir werden sie dann in der dunklen Ecke der Videothek finden, wo sich geheimnisvolle Männer mit Sonnenbrille herumdrücken.

Das Konzept ist so bemüht, dass es schon fast putzig ist. Warum tragen die Ersatzspieler Mundschutz auf der Bank? Haben sie nicht die ganze Woche Vollkontakt zusammen trainiert? Und wer sanktioniert eigentlich Verstöße gegen das heilige Konzept? Der liebe Gott? Laut DFL-Geschäftsführer Seifert sind dafür die Clubs selbst verantwortlich. Bei Zuwiderhandlung ab in den Beichtstuhl.

Augsburgs Trainer Heiko Herrlich gestand, dass er die Quarantäne im Supermarkt verbracht hat und klang dabei so, als sei es sein erstes Mal gewesen. Kölns Gisdol jammerte, weil er zwischen Mannschaftshotel und Trainingsplatz kein Eis holen kann. Ich bin sicher, er hat sich gleich danach sieben Kugeln Stracciatella mit Selbstmitleid auf´s Zimmer kommen lassen. Was Papa Seifert nicht weiß, macht ihn nicht heiß.

Der Strippenzieher

Die Pro-Neustart-Fraktion feiert den DFL-Geschäftsführer Christian Seifert. Der studierte Kommunikationswissenschaftler aus dem badischen Rastatt bekommt aber durchaus auch von einigen Skeptikern ein gutes Zeugnis ausgestellt.

Ihm wird attestiert, dass er unaufgeregt und besonnen kommuniziere und doch sein Ziel nie aus den Augen verliere. Vor seiner inzwischen fünfzehnjährigen Tätigkeit bei der DFL war er unter anderem für die Karstadt-Quelle AG und MTV tätig. Er weiß, wie man etwas verkauft und spielt gekonnt die Klaviatur des Lobbyismus und Produktmarketings.

Vielleicht kann man Seifert für seine fachlichen Qualitäten loben, allerdings darf man nicht vergessen, aus welchen Motiven und mit welchem Ziel er das alles tut. Wenn ich seit 2005 einem Verband vorstünde, dessen marodes Geschäftsmodell in den letzten Wochen endgültig aufgedeckt wurde, würde ich kleinere Brötchen backen. Wer ist denn für die Lizenzierung der allzu schnell ins Schwanken geratenen Bundesligaclubs zuständig? Wer lässt denn zu, dass die Clubs mögliche zukünftige Einnahmen schon vorher verpfänden? Wer verantwortet denn den Verteilungsschlüssel der TV-Gelder?

Der deutsche Profifußball hat in den vergangenen Wochen sein wahres Gesicht gezeigt. Solidarität und Verantwortung sind nicht mehr als eine PR-Fassade. Eigennutz, Gier und Skrupellosigkeit bestimmen das Geschäftsgebaren der DFL, deren Kopf Herr Seifert ist.

Der Profifußball habe als wichtige Wirtschaftsbranche genauso wie alle anderen Bereiche das Recht, für die Wiederaufnahme ihres Betriebs zu kämpfen, ist eines seiner Lieblingsargumente. Auf welch wackeligen Beinen sie trotz ihrer dreistelligen Millionenumsätzen steht, und dass sie sich selbst durch unseriöses Geschäftsgebaren in diese kritische Situation gebracht hat, sagt er weniger gerne. Auch nicht, dass ihr beim Neustart von hochrangigen politischen Entscheidungsträgern gehörig unter die Arme gegriffen wurde. Oder warum saß der bayerische Ministerpräsident am Sonntag zufällig bei den Dampfplauderern vom Doppelpass?

Seiferts fachliche Fähigkeiten in allen Ehren, aber letzten Endes sollten wir Verantwortungsträger danach beurteilen, was hinten rauskommt. Dass sich der deutsche Profifußball mit seinem Gewaltakt mittelfristig einen Gefallen tut, bezweifle ich nach wie vor. Der Glaubwürdigkeitsverlust ist enorm.

Ist das Fußball oder kann das weg?

Der erste Corona-Spieltag fühlt sich für mich an, als sähe ich einem guten Freund beim Sterben zu. Das aktuelle Sportstudio musste ich trotz Dunja Hayali nach zehn Minuten abschalten. Das VfB-Fanradio war so spannend wie eine Reportage von der Montage eines Ikea-Einbauschranks. Die Ergebnisse nehme ich unter dem Vorbehalt zur Kenntnis, dass sie ungefähr die Aussagekraft eines ersten Vorbereitungsspiels nach der Sommerpause haben.

Wenn sich Eurosport und die DFL wegen der Konditionen für die Übertragung eines Montagsspiels in die Haare kriegen, wissen wir, dass diese ganze Show nicht mehr für uns veranstaltet wird. Bandenwerbung auf Mandarin weist den Weg, den die DFL einschlagen will: maximale Vermarktung des TV-Produkts auf Kosten derjenigen, die den Fußball zu dem gemacht haben, was er ist. Ob ihr es euch anschaut oder nicht, interessiert die DFL höchstens peripher, denn die Wachstumspotenziale liegen woanders. Der Sack Reis sind wir, die internationalen Märkte die vermeintliche Goldgrube der Zukunft.

Und unser VfB? Der hätte am Samstag sein großes Saisonfinale im ausverkauften Neckarstadion bestreiten sollen. Alle in Weiß bei herrlichem Frühlingswetter. Die neue Normalität sieht anders aus. Die furztrockene (und erfolglose) Dienstreise nach Wiesbaden zeigt, was wir in absehbarer Zukunft von der Bundesliga erwarten können: noch nicht einmal eine Karikatur dessen, was den Fußball für uns ausmacht.

SV Wehen-Wiesbaden – VfB 2:1

Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson

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