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Risse im Gefüge

Auch am zweiten Corona-Spieltag kommt bei mir keine Stimmung auf. Die aufdringlichen Versuche des Bezahlsenders Sky, mich als Kunden zurückzugewinnen, wandern direkt in den virtuellen Papierkorb. Dieses Mal habe ich mich gegen das Vereins-Fanradio und für den Live-Podcast von Fans für Fans entschieden. Aber selbst hier fühle ich mich ein bisschen fremd, weil die große Mehrheit der Mitleidenden eben doch nebenher das Fernsehbild verfolgt. Aus den Kommentaren lässt sich entnehmen, dass ich nicht wirklich viel verpasse: Früher Rückstand nach einem Konter der Marke „Schlag ihn lang, Bruder“, die ganz in schwarz gekleideten Gäste ohne festen Stand und ohne zündende Ideen im Spiel nach vorne. Der VfB liefert mal wieder stabil ab: immer den gleichen Murks.

Fehlstart statt Neustart

Die Ankündigungen der VfB-Verantwortlichen lesen sich im Vorfeld eines Spiels immer sehr fokussiert, wirken nach Ablauf der neunzig Minuten aber so leer wie die großen Töne eines Halbstarken, der doch wieder den Schwanz eingezogen hat.

„Jedes Spiel könnte wichtig sein für den Fall eines Abbruchs. Deswegen gehen wir jedes kommende Spiel wie ein Finale an.“

Sportdirektor Sven Mislintat, 12.5.

„Es ist sehr, sehr wichtig, dass wir ein Erfolgserlebnis haben am Sonntag (…) Wir brauchen drei Punkte, wir brauchen eine gute Leistung.“

Cheftrainer Pellegrino Matarazzo, 22.5.

„Wir nehmen die positiven Sachen mit auf den Weg ins nächste Spiel gegen Hamburg – da geht’s um alles.“

Cheftrainer Pellegrino Matarazzo, 24.5.

Was kommt als nächstes? „Gegen Dresden muss der Knoten platzen“? „Jetzt gilt unser Fokus den drei Punkten gegen Osnabrück“? Es ist beängstigend, in welcher Form der VfB aus der Corona-Pause gekommen ist. Nein, es gibt keine Blaupause für eine solche Situation, aber andere Clubs schaffen es augenscheinlich ungleich besser, mit dem Neustart umzugehen. Sie bereiten zum Beispiel das passende Schuhwerk für den Spieltag vor oder sensibilisieren ihre Spieler dafür, dass es bei Spielen ohne Publikum um genauso viele Punkte geht wie vor ausverkaufter Hütte.

Wie der jammernde Arbeitskollege, der sich wegen des Hauchs eines Schnupfens für zwei Wochen krank scheiben lässt, ist der VfB einfach eine Mimose. Pausen bekommen ihm nicht, denn danach findet er seinen Rhythmus nicht. Zu viel Gegenwehr schmeckt unserer Truppe auch nicht, da müsste man ja gegenhalten. Schlechte Plätze sind für  die Edeltechniker mit dem Brustring eine einzige Zumutung und ohne die lautstarken Jungs aus der Cannstatter Kurve können sich die Herren Topverdiener einfach nicht richtig motivieren.

 Wie tief gehen die Risse?

Ohne dass Tim Walter auch nur einen Mucks gemacht hätte, wirkt er nach den beiden Auswärtsniederlagen in Wiesbaden und Kiel ein Stück weit rehabilitiert. Die Pleiten gegen die gleichen Gegner in der Hinrunde galten als Beweis dafür, dass der Walterball nicht funktioniert. In der Folge musste der Bruchsaler seine Ideen immer mehr verdünnen, seine großmäuligen Ansagen fielen ihm zusehends auf die Füße.

Sein Nachfolger schwingt keine großen Reden. Dass Matarazzos Idee von Fußball bei der Mannschaft ankommt, sieht man nach der Coronapause allerdings immer weniger. Die Mannschaft wirkt einmal mehr willenlos. Keine Führung, kein Aufbäumen, keine Punkte.

Dem unerfahrenen Neuling im Profigeschäft will ich keine allzu großen Vorwürfe machen, richten wir den Blick lieber auf diejenigen, die in dieser Saison bereits zwei Wunschtrainer verpflichten durften: Sportdirektor Sven Mislintat und Sportvorstand Thomas Hitzlsperger.

Bereits bei Hitzlspergers Beförderung gab es kritische Stimmen, die gerne die Ämter des Sportvorstands und des Vorstandsvorsitzenden getrennt hätten. Interimspräsident Bernd Gaiser vertröstete damals auf den Sommer – nach dem (erhofften) Aufstieg. Der Lehrling auf dem Chefsessel gestand ein, dass bei so vielen Aufgaben immer etwas zu kurz komme, und er sicher nicht mehr so nah an der Mannschaft sein könne. Dafür ist jetzt Sven Mislintat zuständig, der zuvor noch nie ein so breites Aufgabenfeld beackern durfte. Er hat sich seine Meriten als Scout verdient.

Die Herausforderungen in Bad Cannstatt waren zu Saisonbeginn gewaltig, denn in der Vergangenheit war es nicht gelungen, ein gesundes Leistungsklima zu schaffen, Spieler zu entwickeln und das Maximum aus ihnen heraus zu kitzeln. In der Abstiegssaison war man an der Aufgabe gescheitert, eine Mannschaft zu formen, die füreinander einsteht und eine Einheit bildet.

Schockiert müssen wir feststellen, dass der Befund heute der gleiche bleibt. Auch das Duo Hitzlsperger-Mislintat hat es nicht geschafft, dem Team eine Hierarchie und Struktur zu geben. Die Risse treten in der entscheidenden Saisonphase besonders deutlich zutage. Allein mit schönen Formulierungen und einem netten Lächeln wird sie selbst das Kommunikationstalent an der Spitze der AG nicht mehr wegmoderieren können. Beim VfB gebe es einen Auszubildenden zu viel, las ich neulich als Kommentar auf die Niederlage in Wiesbaden.

Wer kann die Mannschaft führen?

Wenn man Fußballspiele in einem leeren Stadion ohne Ton anschaut, achtet man auf kleine Dinge, die man sonst leicht übersieht. Beim Re-Live auf VfB-TV ist mir die Körpersprache nach dem frühen Rückstand aufgefallen: Gomez lamentiert beim Schiedsrichter, Didavi verdreht die Augen. Der Kapitän Marc-Oliver Kempf und Routinier Gonzalo Castro saßen derweil nur auf der Bank, weil das Trainerteam ihnen nicht zugetraut hatte, den Widerständen in Kiel zu trotzen.

Die Geschichte der Anführer bleibt an diesem Tag eine Tragödie. Didavi protestiert zunächst nach einem Schubser beim Schiedsrichter, als habe sich (Achtung!) die ganze Welt gegen ihn verschworen, vier Minuten später legt er sich die Kugel zu weit vor und räumt aus Frust den Gegenspieler ab. Platzverweis. Dümmer geht´s nimmer. Wer soll jetzt übernehmen? Einige hoffen nach wie vor auf Gomez, dass er die Mannschaft nicht nur in der Kabine im Griff hat. Der Riedlinger muss aber – völlig zurecht – zur zweiten Halbzeit in selbiger bleiben, also streift sich Stenzel die Binde über. Der Leihspieler aus Freiburg muss nach blassem Auftritt in der 89. Minute für den etatmäßigen Kapitän Platz machen. Das Karussell hat sich einmal um sich selbst gedreht. Geführt hat an diesem Nachmittag wieder einmal keiner.

Haben die Verantwortlichen bei der Kaderplanung aufs falsche Pferd gesetzt? Werden Gomez, Castro und Didavi allenthalben überschätzt? Gibt es überhaupt einen Spieler im Kader, der das Zeug dazu hat, diesen Haufen in die gleiche Richtung zu lenken? Kommt mir jetzt bitte nicht mit Holger Badstuber. Der träumt nämlich immer noch vom großen FC Bayern und seiner verhinderten Karriere. Im Mannschaftsgefüge wirkt er eher wie ein Fremdkörper.

Am Ende bleibt Mitleid

Fiebert eigentlich noch irgendwer mit dieser Trümmertruppe? Kurz vor Schluss flammt nämlich im Live-Podcast tatsächlich noch einmal die Hoffnung auf, dass der VfB nach einem Zweikampf von Phillip Förster auf der Sechzehnerlinie einen zweiten schmeichelhaften Elfmeter bekommen könnte. Im Grunde wissen aber alle, dass die Niederlage verdient ist. Kiel nutzt – wie es ihr Trainer schon vorher angekündigt hatte – die Chancen, die ihnen der VfB anbietet. Solider Zweitligafußball, sicher nicht mehr.

Trotzdem leide ich mit und zwar mit dem blutjungen Massimo, der kurz nach seiner Einwechslung zwei Böcke fabriziert, die mich an meinen Auftritt anno dazumal im Trikot der Germania beim Tabellenführer TSF Ditzingen erinnern. Wir trainierten damals auf Asche, in seltenen Glücksfällen auf Kunstrasen, während unser Gegner auf Naturrasen spielte. Ganz schön blöd, wenn dir da der Ball kurz vor dem Rückpass verspringt … am Ende stand´s 8:0. Roberto, I feel you!    

Holstein Kiel – VfB 3:2  

Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson

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