Mit´m Pokal wied´r hoim

Wer schwere Zeiten durchgemacht hat, weiß Glücksmomente ganz anders zu schätzen. Der Traditionsklub aus Cannstatt und seine treuen Fans, auch mancher Spieler ganz persönlich, lassen die Tiefpunkte der vergangenen Jahre am Samstagabend in Berlin hinter sich und feiern eine rauschende Party. Spätestens jetzt weiß ganz Fußball-Deutschland Bescheid: Der VfB ist wieder da.
Viele Geschichten zum stimmungsvollen Endspiel wurden schon erzählt, Pokalhelden besungen und Sprüche geklopft. Meine sechs Perspektiven auf den ersten Titel seit dem 19. Mai 2007 lest ihr im Pokal-Sixpack.
1. Fußballfest
Im bunten Berlin fällt man nicht so schnell auf, egal was man tut. Doch selbst völlig Ahnungslosen wird am Samstag klar: Da liegt etwas Besonderes in der Luft. „Was machen denn die Leute mit dieser komischen Kleidung überall?“, fragt ein junges Mädchen seine Mutter in der überfüllten U-Bahn. „Wahrscheinlich ein Fußballspiel, meine Süße.“ Doch damit liegt sie falsch.
Es ist ein Fußballfest, ein Sehnsuchtsspiel, eine mitreißende Theateraufführung zweier Klubs, die sonst selten auf der großen Bühne stehen. Das notorisch kalt wirkende Berliner Olympiastadion ist von einer begeisternden Atmosphäre erfüllt. Beide Kurven geben ihr ganzes Repertoire zum Besten und zeigen, welche Fankultur Traditionsvereine ausmacht. Es ist ein Spiel, bei dem es keine Verlierer gibt, obwohl der Zweitligaaufsteiger aus Ostwestfalen formal mit 2:4 unterliegt.
2. Ins offene Messer
Auch fußballerisch hat das Endspiel einiges zu bieten. In der 12. Minute fällt den VfB-Fans zum ersten Mal das Kaltgetränk aus der Hand, als Sarenren Bazee den Ball nach einem schnellen Bielefelder Angriff aus fünf Metern an die Latte knallt. Die rechte Abwehrseite mit den etwas unerwartet aufgebotenen Vagnoman und Jaquez sieht da nicht gut aus. Doch schon drei Minuten später ist alles vergessen: Woltemade wird nach einem Ballverlust der Bielefelder mustergültig von Stiller bedient und mogelt die Kugel an Torwart Kersken vorbei (15.). Der Favorit führt früh.
Keine halbe Stunde ist gespielt, als sich die Fans in Weiß und Rot bereits zum dritten Mal freudetrunken in den Armen liegen. Ballgewinn, Vertikalpass in die Spitze, eiskalter Abschluss – war das nicht der Bielefelder Matchplan? Der VfB überrascht den Außenseiter mit dessen eigenen Mitteln und nutzt die Ballverluste der Arminia gnadenlos aus. Die Kniat-Elf läuft dem Champions-League-Teilnehmer ins offene Messer.
Mitte der zweiten Hälfte folgt dann das nächste ostwestfälische Geschenk: Enzo Millot nimmt dankend an und hält sein Trikot in die explodierende Ostkurve. Begleitet von schwäbischen Freudengesängen rollt das Finale seinem Ende entgegen. Dass Sebastian Hoeneß in der Schlussphase noch einmal ins Schwitzen kommt, bleibt an diesem Tag zum Glück eine Randnotiz, erinnert die euphorisierten Anhänger aber daran, dass der VfB eben VfB-Sachen macht. Höhepunkt der schwäbischen Tollpatschigkeit ist der platzierteste Kopfball in der Karriere des Josh Vagnoman (85.) – ins eigene Tor.
3. Herz und Seele
Der Pokalsieg sei wohl das Krasseste, was er je erlebt habe, gibt Atakan Karazor nach dem Spiel freudestrahlend zu Protokoll. Einst von Tim Walter aus Kiel mitgebracht hat sich der „schwäbische Busquets“ zu einem echten Leader gemausert. Niemand spricht so viel auf dem Platz wie das „Metronom“ vor der Abwehr, niemand coacht so intensiv.
Unter Sebastian Hoeneß hat Karazor noch einmal einen Entwicklungssprung hingelegt. Auch wenn sein Spiel in der abgelaufenen Saison ein paar Leistungsdellen aufwies, darf sich der Stratege nach dem ersten Titelgewinn seit 18 Jahren als Reinkarnation des legendären Zvonimir Soldo fühlen. Eine größere Ehre kann einem in Cannstatt kaum zuteil werden.
Wenn Karazor die Seele des VfB-Spiels ist, ist Angelos Stiller das Herz. Der geborene Münchner war der Wunschspieler von Tim Walters Nach-Nach-Nachfolger, der bereits bei den Bayern und in Hoffenheim mit dem hochtalentierten Linksfuß gearbeitet hat. Trotz Sprunggelenksverletzung prägt der Jungnationalspieler das Pokalfinale mit zwei blitzsauberen Torvorlagen.
Balleroberer, Passmaschine und Spielgestalter, zuletzt sogar Schütze wichtiger Tore: Stiller ist nicht aus der Mannschaft wegzudenken. Christoph Kneer adelt ihn in der Süddeutschen Zeitung zum „verlängerten linken Fuß des Trainers“ auf dem Platz.
4. Eine echte Marke
Nach seinem kometenhaften Aufstieg in der Vorsaison samt Nominierung für die Nationalmannschaft musste Deniz Undav in dieser Saison durch ein Tal gehen. Erst auf den letzten Metern ist die Stimmungskanone wieder in Form gekommen. Im Pokalendspiel zeigt er alles, was ihn so einmalig macht: Unbekümmert, uneigennützig und unbeirrbar legt er das 2:0 vor und erzielt das 3:0 in unnachahmlicher Manier selbst. Geschickt schiebt er seinen Körper zwischen Gegenspieler und Ball, bevor er über das Standbein ins kleine Netz abschließt. Wie so oft scheint es, als habe er die Kugel nicht richtig getroffen – doch dann tanzt er seinen kurdischen Tor-Tanz.
Als Fabian Wohlgemuth im Sommer tief in die Tasche griff, um den Publikumsliebling aus Brighton loszueisen, war seine Überlegung: Ein Spieler vom Schlage eines Deniz Undav ist nicht nur sportlich wertvoll, sondern auch eine Gute-Laune-Pille für die Kabine und eine Identifikationsfigur für die Fans. Wenn er in der Vorbereitung die physischen Grundlagen nicht vernachlässigt und gesund bleibt, wird er auch in der kommenden Spielzeit wieder für Schlagzeilen sorgen. Der 28-jährige Spätstarter hat bewiesen, dass man ihn nie abschreiben darf.
5. Ein richtiger Stürmer
Entgegen allen Erwartungen stand in der abgelaufenen Saison nicht das 50-Millionen-Sturmduo im Mittelpunkt, sondern der ablösefreie Nick Woltemade, der nach eigener Wahrnehmung eigentlich gar kein richtiger Stürmer ist. 17 Tore in Liga und Pokal, davon die allermeisten in der Rückrunde, haben den Bremer in die A-Nationalmannschaft katapultiert. Seine Entwicklung ist in der Tat bemerkenswert, zumal es Spielertypen wie ihn nur äußerst selten gibt.
Big Nick ist auch im Olympiastadion fast nicht zu verteidigen. Mit seinen langen Gräten macht der Mann von der Küste viele Bälle fest, legt sie klug ab oder dreht selbst Richtung Tor auf. Der frühere Edel-Techniker Hansi Müller meint: „Für mich ist es schwer zu verstehen, wie man mit so einer Hebelwirkung eine solche Technik haben kann“. In Stuttgart wird der Bremer mit der Peter-Crouch-Figur längst „Woltemessi“ genannt.
Zuletzt hat er auch sein Kopfballspiel verbessert, sodass Guido Buchwald ihn etwas voreilig schon als „richtig kompletten Goalgetter“ bezeichnet. Eher scheint es so, als sei Woltemades Entwicklung noch lange nicht am Ende. Trainer Hoeneß hat von Anfang an gewusst, dass der Neuzugang ein echter Neuner werden kann. „Noch stabiler und kräftiger“ müsse der Mann mit dem Pistolero-Torjubel werden, rät Hansi Müller. Vielleicht nennen wir ihn dann bald Schwaben-Ibrahimovic, wie VfB-Botschafter Cacau schon jetzt in Aussicht stellt.
6. Ein Held, der keiner sein will
Als der Pokal seinen Weg in die Kurve mit den VfB-Fans findet, erklingt wieder die aus der letzten Saison bekannte Aufforderung: „Hoeneß auf den Zaun“. Der Cheftrainer hat vor zwei Jahren die Wende eingeleitet, als der Klub am Abgrund stand. Innerhalb kurzer Zeit etablierte er eine neue Spielidee und wurde zu einem der Trainer, die der Bundesliga einen frischen Anstrich geben.
Der Sohn von Dieter Hoeneß steht für attraktiven Offensivfußball und einfühlsame Mannschaftsführung. Im SZ-Interview sagt er: „Fußball ist nicht nur Physis, sondern auch Psyche“. Auf der Frage, ob er während der schwierigen Phase im Frühjahr zu nachsichtig mit seinen Profis gewesen sei, antwortet der Fußball-Lehrer: „Soll ich dann voll reingehen und wilde Sau spielen? Ich hätte das in diesem Moment gar nicht authentisch transportieren können, und ich glaube, die Mannschaft hätte es auch nicht verstanden“. Hoeneß stellt sich vor seine Mannschaft und behält am Ende Recht. In den letzten Saisonspielen findet das Team wieder zu alter Stabilität und gewinnt als Krönung den ersten Titel seit 2007.
Eine Botschaft des Pokalsieger-Trainers dürften die VfB-Fans besonders gern hören: „Lasst uns hier gemeinsam was aufbauen“. Hoeneß schwebt nach dem Vorbild des Champions-League-Finalisten Paris Saint Germain eine noch flexiblere Spielweise und ein Teamgeist vor, der jeden einzelnen Spieler zu Höchstleistungen treibt. Die Bundesliga und Europa müssen also auf längere Sicht wieder mit dem VfB rechnen. Und das ist auch gut so!
Zum Weiterlesen:
Stiller und Hoeneß beim VfB Stuttgart: Lieblingsschüler und Lieblingslehrer – Sport – SZ.de
Ganz viel Amore für alle beim VfB – Vertikalpass
DFB-Pokal: Auf der Zielgeraden zeigt der VfB Stuttgart sein wahres Gesicht – DER SPIEGEL
Vor dem DFB-Pokal-Finale: VfB-Trainer Sebastian Hoeneß im Interview – Sport – SZ.de
reybucanero74
Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson