Lerna däh mer nix
Unwillkürlich erinnern sich die VfB-Fans an einen frostigen Januartag im Jahr 2018. Damals präsentierte Michael Reschke einen gewissen Tayfun Korkut als Nachfolger von Hannes Wolf. Anderthalb Jahre und einen weiteren Abstieg später taumelte der Traditionsklub aus Cannstatt am Abgrund. Von den Entscheidern, die den VfB mit Gewalt in die Vergangenheit zurückversetzen wollten, war im Frühsommer 2019 keine Spur mehr.
Mir sen noh so richtige Schwoba
(frei nach Hans Söllner)
Mit Muskeln, Charme und Grips
Jeda Fehler den mach mer glei zwoimol
Ja abr lerna däh mer nix, zefix.
Auch wenn es unglaublich klingt, beginnt am vergangenen Montag eine neue Zeitreise. In einer Pressemitteilung kündigt der VfB einen Schritt in die fußballerische Steinzeit an – und begeht dabei so viele Fehler auf einmal, dass einem beim Zählen ganz schwindelig wird.
1. Führung
Als Alexander Wehrle bei der Mitgliederversammlung Christian Gentner als künftigen Leiter der Lizenzspielerabteilung präsentierte, fiel der Applaus nicht so euphorisch aus wie erhofft. Im Nachgang wurde dann bekannt, dass der Vorstandsvorsitzende und Sportvorstand diese Entscheidung ohne Rücksprache mit den leitenden Angestellten der Abteilung Sport getroffen hatte. In punkto Unternehmensführung ein grober Schnitzer.
Jetzt legt er nach: Fabian Wohlgemuth ist erst am Samstag als neuer Sportdirektor vorgestellt worden und noch nicht einmal ins Schwabenland gereist, da stellt sein Chef bereits den neuen Trainer vor. Damit ist der gebürtige Berliner schon vor Amtsantritt beschädigt. Die Entscheidung für Bruno Labbadia hat Alexander Wehrle getroffen, daran gibt es keine Zweifel.
2. Kontinuität
Beim VfB geht´s hü und hott. Das weiß in Württemberg jedes Kind noch vor der Einschulung. Herr Wehrle fügt den Cannstatter Kammerspielen nun eine weitere Episode hinzu. Nachdem er Sportdirektor Wohlgemuth am Samstag noch als Beweis für Kontinuität bezeichnete, fallen zwei Tage später alle Hüllen: Bruno Labbadia, Bernhard Trares und Athletiktrainer Günter Kern. Mit diesem Aufgebot könnte man einen Fußballsketch aus den Neunzigern aufführen. Alles was bis vor Kurzem an der Mercedesstraße noch als sicher galt, steht auf einmal in Frage.
3. Missmatch Trainer – Kader
Wenn du Jagdhunde hast, dann spannst du sie nicht vor einen Schlitten. Und mit drei dänischen Doggen auf dem Schoß wird es schnell ungemütlich auf der Chaiselongue. Ich möchte den Herren Labbadia, Trares und Co. nicht zu nahe treten, aber ihre Art Fußball passt einfach nicht zu dem Kader, der in Cannstatt auf der Payroll steht.
Aus gutem Grund sind im Profifußball oft die Klubs am erfolgreichsten, die eine langfristige Strategie verfolgen. Da sind nämlich sportliche Leitung, Trainerteam und Kader in kontinuierlicher Feinarbeit aufeinander abgestimmt. Nicht so beim VfB – da wird wieder einmal der Trainer vor dem Sportdirektor bestimmt, während die Mannschaft noch vom Vorgänger stammt.
4. Gesamtstrategie
Jedes Unternehmen, das etwas auf sich hält, formuliert heute so etwas wie eine Vision. Da wird festgelegt, wie man sich selbst sieht, welche Werte man vertritt und wohin der Weg führen soll. Herr Wehrle gilt zwar gemeinhin als Vollprofi im Fußballgeschäft, hat nun aber in Rekordzeit viele Visionen der VfB Stuttgart 1893 AG pulverisiert: Transparenz, Kontinuität, miteinander statt gegeneinander. Leider hat es der Verwaltungsfachwirt dabei versäumt, neue Visionen zu vermitteln. Er wirkt sprunghaft und von der Basis entrückt. Nicht die besten Voraussetzungen für den Kapitän eines großen Tankers.
5. Kommunikation
Spätestens seit Michael Reschke müsste man an der Mercedesstraße wissen, welch fatale Folgen schlechte Öffentlichkeitsarbeit haben kann. Wehrle und Kaufmann geben sich jedoch alle Mühe, um den rheinischen Dampfplauderer noch zu unterbieten. Die bisherigen öffentlichen Auftritte unter ihrer Verantwortung darf man ohne Übertreibung als misslungen bezeichnen.
Pressemeldungen aus der Geschäftsstelle widersprechen sich zeitweise im Stakkato. Vergangenen Mittwoch hieß es noch, man habe Mislintat ein marktgerechtes Vertragsangebot vorgelegt, fünf Tage später werden Entscheidungen getroffen, die den Willen zur weiteren Zusammenarbeit vollkommen unglaubwürdig erscheinen lassen. Diese Art der öffentlichen Kommunikation ist schlicht unprofessionell.
6. Ämterhäufung
Die jüngere Vereinsgeschichte beweist, dass Ämterhäufungen dem Klub schaden. Wehrle hat seine beiden Vorstandsämter von Hitzlsperger geerbt und verfügt jetzt über die gleiche ungesunde Machtfülle. Mit zwei persönlichen Beratern an der Seite wirft er im Handumdrehen die sportliche Strategie der letzten dreieinhalb Jahre über den Haufen, ohne dass ihm irgendjemand Paroli bietet.
Pikantes Detail: Der Mann, der in der VfB AG sportliche Entscheidungen quasi im Alleingang trifft, verfügt in diesem Bereich über keine ausgewiesene Kompetenz. Es erweist sich als falsch, ausgerechnet den Vorstandsposten Sport unbesetzt zu lassen.
7. Checks and Balances
Der Aufsichtsrat ist das einzige Gremium, dem der Vorstandsvorsitzende Rechenschaft schuldig ist. Zuletzt tagten die Damen und Herren am vergangenen Donnerstag und segneten dabei offensichtlich bereits die Trainerentscheidung ab.
Gab es niemanden, der gerne zuerst den neuen Sportdirektor zu diesem Thema gehört hätte? Niemanden, der nach der Zukunft des NLZ unter einem Cheftrainer Labbadia fragte? Niemanden, der daran erinnerte, dass die letzte Amtszeit des neuen Trainers beim VfB trotz einiger respektablen Ergebnisse alles andere als eine goldene war? Niemanden, der anzweifelte, dass der schöne Bruno bis 2025 bezahlt werden soll? Wofür haben wir dann eigentlich einen Aufsichtsrat?
Niemand kann heute schon sagen, ob Labbadia mit seinem Trainerteam den Klassenerhalt schaffen wird. Und niemand wird je beweisen können, dass es in der Kombination Mislintat – Matarazzo/Wimmer besser geklappt hätte. Sicher scheint aber, dass die Fehler, die in den vergangenen Wochen und Monaten beim VfB begangen wurden, noch lange nachwirken werden. Als Anhaltspunkt: Von Korkuts Amtsantritt bis zur Implosion dauerte es damals anderthalb Jahre.
Zum Weiterlesen:
reybucanero74
Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson
5 Kommentare
Fahne
Dein Text trifft es auf den Punkt, in allen Punkten. Mir fällt dazu nur noch eine alternative Überschrift ein „VfB – Einfach unverbesserlich“. Ich hatte meine Mitgliedschaft beim e.V. schon letzte Woche gekündigt. Die Geschehnisse der Tage danach haben mich in meiner Entscheidung bestätigt. Für manche mag gelten, der Zweck heiligt die Mittel. Für mich nicht. Meine Identifikation mit dem VfB ist nicht mehr vorhanden. Mir haben die Menschen und Gremien beim VfB über Jahre und mehrfach bewiesen, dass es eine große Diskrepanz zwischen ihren Werten und meinen Werten gibt. Das mag in der Mercedesstraße keinen stören. Mich stört es aber ab sofort auch nicht mehr, was für tolle Entscheidungen noch alle getroffen werden.
CoachingZone
Über 12000 Fans und Mitglieder haben gegen dieses Szenario ihre Stimme erhoben und wollten den auf kurze Sicht sicherlich manchmal steinigen, aber auf lange Sicht nachhaltigen Weg MIT Mislintat gehen.
Das Einzige, was Ihnen dazu einfiel, war, die Petition lächerlich zu machen.
Jetzt haben Sie die zweitklassige Clubführung, die Sie für Ihre Beiträge verdienen.
reybucanero74
Vielen Dank für den Kommentar. Die Petition halte ich immer noch für den falschen Weg. In einem mittelständischen Unternehmen mit rund 150 Mio EUR Jahresumsatz werden Personalentscheidungen nicht aufgrund von Petitionen getroffen, zumal das Output unter der Direktive von Herrn Mislintat nicht das erwünschte war. Wir stimmen allerdings überein, dass die aktuellen Personalentscheidungen strategisch unklug und wenig weitsichtig sind.
Viele Grüße!
Christoph
Olli
Starker Text.
Trifft (leider) alle Nägel auf den Kopf.
SMR
Ein sehr guter Artikel, der den Punkt trifft. Ohne Not und Konzept wird durch AW alles eingerissen, was mit einer konkreten Idee aufgebaut worden war.
Mir ist das Wirken des AW in Kombination mit TK aus Köln leider nur zu gut bekannt. Daher überrascht mich nicht, was beim VfB gerade passiert.
Mich überrascht nur, dass man AW geholt hat. Hat sich denn keiner der Entscheider vorher den Zustand des FC angeschaut?