Geht Don Pellegrinos Rechnung auf? (Teil 1)
Seit knapp 1000 Tage arbeitet Pellegrino Matarazzo inzwischen als Cheftrainer des VfB Stuttgart. Damit steht er hinter Christian Streich (SC Freiburg), Urs Fischer (Union Berlin) und Thomas Reis (VfL Bochum) auf Platz 4 der dienstältesten Bundesligatrainer. In der klubinternen Rangliste ist er kurz davor, Bruno Labbadia einzuholen. Auch Lebemann Arie Haan und Meistertrainer Armin Veh haben nur noch wenige Wochen Vorsprung.
Trotzdem kommt nach dem holprigen Start in seine vierte VfB-Saison erste Unruhe auf. Findet der studierte Mathematiker die richtige Formel, um seine Mannschaft in der Bundesliga wieder häufiger zu Siegen zu führen?
An Profil gewonnen
Nicht nur an der Länge seiner Amtszeit kann man ablesen, dass sich der ehemalige Co-Trainer von Julian Nagelsmann in Bad Cannstatt ein gewisses Standing erarbeitet hat. Die Spieler schätzen ihn wegen seiner abwechslungsreichen Trainingsformen und seiner respektvollen Kommunikation, bei den Journalisten hat er mit seiner offenen und kooperativen Art ein Stein im Brett und für die Fans ist sein Sprint zur Eckfahne nach der Last-Minute-Rettung jetzt schon legendär.
Matarazzo hat seit seinem Amtsantritt an Profil gewonnen. Wirkten seine Pressekonferenzen zu Beginn noch etwas steif, gibt er heute vor den Mikrofonen auch einmal „O sole mio“ zum besten oder scherzt, dass er sich wegen seiner Innenraumsperre wohl als Fritzle verkleiden müsse. Gleichzeitig ist der 44-jährige in seiner Ansprache strenger geworden und scheut sich nicht davor, seine Spieler nach schlechten Leistungen auch öffentlich zu kritisieren.
In die neue Saison geht der in New Jersey geborene Italo-Amerikaner mit dem Ziel, die Mannschaft weiterzuentwickeln und nicht bis zum letzten Spieltag am Abgrund zu stehen. Nach fünf Partien stellt sich bereits heraus, dass die Trauben auch in dieser Spielzeit hoch hängen. Mit nur 4 Punkten und 4 geschossenen Toren steht seine Mannschaft vor den schweren Aufgaben gegen Bayern und Frankfurt schon früh unter Druck.
Negative Tendenz
Schaut man sich Matarazzos Bilanz nach 96 Bundesligaspielen an, können einen Zweifel befallen: Nach dem erreichten Punkteschnitt liegt der aktuelle Cheftrainer (1,26 Punkte pro Spiel) im vereinsinternen Vergleich weit abgeschlagen hinter Legenden wie Jürgen Sundermann (1,92) und Helmut Benthaus (1,78), sogar noch hinter Schreckgespenst Winfried Schäfer (1,38) und gleichauf mit Knurrer Egon Coordes, den die VfB-Fans damals am liebsten vom Hof gejagt hätten.
Hinzu kommt, dass die Tendenz nach unten zeigt. Holte Matarazzo im Coronajahr 2021 mit seiner Mannschaft noch 12 Siege und 44 Punkte (insgesamt 38 Spiele), gelangen im Kalenderjahr 2022 bisher nur 3 Siege und 20 Punkte (insgesamt 22 Spiele).
Ist es also an der Zeit, den Trainer zu hinterfragen? Welchen Anteil hat Matarazzo an dem negativen Trend? Diese Fragen lassen sich nicht beantworten, ohne auf die Rahmenbedingungen und den jeweils zur Verfügung stehenden Kader zu blicken (mehr dazu in Teil 2). Ein Trainerwechsel macht nämlich grundsätzlich nur dann Sinn, wenn die Verantwortlichen überzeugt sind, mit einem anderen Coach kurz- und mittelfristig mehr aus der Mannschaft herauszuholen.
Ein „lernender Trainer“
Bei seiner Verpflichtung im Januar 2020 wies Matarazzo wenig Erfahrung im Profibereich auf, dafür eine große Expertise bei der Entwicklung von Nachwuchsspielern. Als typischer NLZ-Trainer schien er der sportlichen Führung geeignet, das Projekt „junge Wilde“ in Stuttgart zum Erfolg zu führen.
Doch schon in der Zweitligasaison und in seinem zweiten Bundesligajahr tauchten immer wieder ähnliche Kritikpunkte auf: Ihm fehle die Schärfe, die Spieler auf den Punkt „heiß“ zu machen. Daher starte sein Team oft nicht wach genug in die Partien. Er nehme Wechsel häufig zu spät vor und nach Gegentoren sowie eigenen Treffern verliere seine Mannschaft leicht die Struktur.
Bei der Saisonanalyse im Mai zeigte sich Matarazzo selbstkritisch. Er habe in der Vergangenheit zu viel Geduld mit Nachwuchstalenten gezeigt, die noch nicht bereit für den nächsten Schritt waren. Schon seit der Rückrunde 21/22 verfolgt er daher einen neuen Ansatz, der sich mehr am Ergebnis und weniger an der Spielerentwicklung orientiert.
In der jüngsten Saisonvorbereitung hat er die Ansprache an die Mannschaft noch einmal verschärft und den Leistungsdruck erhöht. Der Kader wurde ausgedünnt, damit die verbleibenden Potenzialspieler gezielt gefördert und an die Bundesliga herangeführt werden können. Offensichtlich hat sich der Trainer auch vorgenommen, selbst mehr Emotionen zu zeigen. An der Seitenlinie fiel er zuletzt durch sehr lebhaftes Coaching auf, was in Köln im ersten Platzverweis seiner Trainerkarriere gipfelte.
Dass Matarazzo noch kein fertiger Trainer ist, wusste man beim VfB von Anfang an. Seine analytischen Fähigkeiten versetzen ihn aber in die Lage, in kritischen Situationen die Ruhe zu bewahren und Lösungen zu finden. Nach der Derbyniederlage im Frühjahr 2020 stellte er die Mannschaft um und erreichte an den letzten Spieltagen doch noch den Aufstiegsplatz. In der vergangene Saison behielt er im Endspurt die Nerven und sein Team schaffte mit Siegen des Willens gegen Gladbach, Augsburg und Köln sowie einem bravourös erkämpften 2:2 in München den Klassenerhalt.
Vision vs. Pragmatismus
Pellegrino Matarazzo hat eine klare Idee, welchen Fußball er spielen lassen will. Statt einer starren Grundordnung gibt er den Spielern Prinzipien vor, an denen sie sich orientieren können. Durch schnelles, vertikales Umschaltspiel sollen Torchancen erarbeitet werden – und zwar so viele, dass die eigene Mannschaft am Ende ein Tor mehr erzielt als der Gegner.
Flexibilität ist ihm besonders wichtig, was sich unter anderem in asymmetrischen Flügelspielern und einem fließenden Übergang zwischen Sechsern und Achtern widerspiegelt. Im ersten Jahr nach dem Aufstieg begeisterte seine 3-4-2-1-Formation mit einem flexiblen Viereck als Herzstück die Fachwelt.
In der Rückrunde der vergangenen Saison bewies Matarazzo, dass er auch den ergebnisorientierten Ansatz beherrscht. Aus einer Vierkette, die mit einer Trichterformation im Mittelfeld zusätzlich abgesichert wurde, erfolgte der Spielaufbau häufig über lange Diagonalbälle.
Für die neue Saison wurde ein 3-3-2-2 einstudiert. Die Doppelspitze soll die unterschiedlichen Profile der Angreifer zur Geltung bringen und die Mannschaft weniger ausrechenbar machen. Was in der Vorbereitung und phasenweise in den ersten Saisonspielen ganz gut aussah, stieß gegen tief stehende Freiburger und zuletzt gegen biedere Schalker an seine Grenzen.
In der Offensive fehlen klare Abläufe und Präzision, im Zentrum klaffen mitunter große Lücken. Das auf Zielspieler Kalajdzic ausgerichtete Spiel umzustellen, erweist sich als schwieriger als gedacht. Matarazzo muss einmal mehr beweisen, dass er pragmatische Lösungen finden kann, ohne seine Vision von einem schnellen, geradlinigen Fußball aus den Augen zu verlieren.
Fortsetzung folgt.
reybucanero74
Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson