Feiertag in Bad Cannstatt
Kann sich jemand erinnern, wann im Neckarstadion zuletzt „Große Liebe VfB“, „Oh wie ist das schön“ und „Die Nummer eins im Land sind wir“ nacheinander angestimmt wurden? Nachdem das Duell gegen die Südbadener schon nach 19 Minuten so gut wie entschieden ist, haben die Fans in Bad Cannstatt lange Zeit, sich und ihre Mannschaft ausgiebig zu feiern.
Der Ex-Hoffenheimer Angelo Stiller ist von der Stimmung geradezu überwältigt: „Ich persönlich habe mich richtig beflügelt gefühlt. Das war schon geil mit viel Gänsehaut. Wenn die Fans ihre Lieder angestimmt haben, dann war das durchgehend laut. Es macht sehr viel Spaß.“ Die Freude am Kicken merkt man dem Neuzugang in seiner ersten Partie im Brustring an. Es wirkt so, als habe er nie etwas anderes getan, als gemeinsam mit Ata Karazor das VfB-Spiel aus dem Zentrum zu organisieren.
Sebastian, was hast du mit dem VfB gemacht?
Die zweite Halbzeit in Leipzig mit fünf Gegentoren in 25 Minuten war ein Rückschlag, keine Frage. In der jüngeren Vergangenheit ließen sich die Schwaben durch solche Negativerlebnisse oft aus der Bahn werfen. Am Samstagnachmittag währt die wackelige Phase vor ausverkaufter Hütte nur vier Minuten. Dann beginnen die Rädchen im System Hoeneß ineinander zu greifen. Nach 19 Minuten reiben sich die Fans verwundert die Augen: Führich und zwei Mal Guirassy sorgen gegen den Europa-League-Teilnehmer aus dem Breisgau für eine frühe 3:0-Führung.
Schon im Aufbau ist das neue Selbstverständnis zu erkennen. Beginnend mit Torhüter Nübel, über die Innenverteidiger und zentralen Mittelfeldspieler suchen die Weiß-Roten immer wieder die vertikale Spieleröffnung. Passschärfe und Abstände zwischen den Linien stimmen. Nach Ballverlust findet die Mannschaft schnell ihre Grundordnung und geht entschlossen in die Zweikämpfe.
Zielstrebigkeit heißt der neue Trumpf im Angriff. Der früher oft kopflose Führich und Scharfschütze Guirassy schließen schnell und überlegt ab: dreieinhalb Chancen, drei Tore. Die Hoeneß-Elf zieht dem Gegner mit dessen eigenen Mitteln den Zahn. Zu keinem Zeitpunkt kommt die Befürchtung auf, dass die Freiburger die Partie noch drehen könnten. Zu sicher läuft der Ball durch die Reihen der Heimmannschaft, die bei hochsommerlichen Temperaturen von der Kulisse getragen wird. Die beruhigende Führung im Rücken vermittelt ein Hochgefühl, das die Anhänger in den letzten Jahren selten erlebt haben.
Entscheidend ist, wer kommt
In den letzten Jahren musste der VfB einige schmerzhafte Abgänge verkraften. Im Sommer 2021 verließen Kobel und González den Klub, ein Jahr später waren es Kalajdzic und Mangala, jetzt gehen Endo, Mavropanos und Sosa. Transfererlöse mit auf dem internationalen Markt begehrten Spielern gehören zum Geschäftsmodell. Das Credo muss lauten: „(…) Es ist nie entscheidend, wer geht, sondern wer danach kommt“. Dieses Zitat stammt aus einem Sport1-Interview mit Sven Mislintat anlässlich des angekündigten Hitzlsperger-Abschieds im Herbst 2021.
Angelo Stiller kommt nun also für Wataru Endo und feiert ein gelungenes Debüt. Ballsicher, spielintelligent und laufstark präsentiert sich der 22-jährige gebürtige Münchner gegen Freiburg und erfüllt damit die Erwartungen des Trainers. Dass er langsam in eine tragende Rolle hineinwachsen muss, sollten wir dennoch nicht vergessen.
Das Fehlen von Borna Sosa fällt am Samstag nicht ins Gewicht. Hikaru Ito zeigt auf der linken Abwehrseite eine gute Leistung und bereitet das 3:0 mit einer präzisen Hereingabe vor. Auch der später eingewechselte Maxi Mittelstädt überzeugt mit einer guten Zweikampfbilanz und entschlossenem Auftreten. Der Offensivdrang und die gefühlvollen Flanken des Kroaten werden uns natürlich trotzdem fehlen.
Die Rolle von Mavropanos als Turm in der Abwehrschlacht könnte künftig Daxo Zagadou übernehmen. Er hat mit dem Griechen nicht nur die Kopfballstärke gemein, sondern auch die gelegentlichen Unkonzentriertheiten im Aufbauspiel. Wenn der ehemalige Dortmunder die Leistung von Samstag dauerhaft abruft und sich die beiden Neuzugänge Rouault und Stergiou schnell einfinden, wird die Mannschaft den Abgang des Publikumslieblings sportlich gut kompensieren.
Die nach Bekanntwerden der namhaften Abgänge zu hörenden Abgesänge kamen also womöglich verfrüht. Der Substanzverlust ist zwar nicht zu bestreiten, aber auch nicht die Möglichkeit, dass der aktuelle Kader die Lücken schließen kann. Nicht nur die Neuzugänge sind dabei gefordert. Neben den beiden Doppeltorschützen machen auch Ito, Karazor und Millot vor, wie einzelne Spieler mehr Verantwortung übernehmen können.
Was bedeutet der gute Start für die Saison?
Sechs Punkte aus drei Spielen sind ein guter Start, elf Tore und zwei Zu-Null-Spiele ein Träumchen. Trotzdem sind die Verantwortlichen und die Mannschaft gut beraten, die Lage richtig einzuschätzen. Sei es durch Verletzungen, Abstellungen für die Nationalmannschaft, Formschwankungen – oder schlicht den Herbsteinbruch: Beim VfB kann sich Optimismus sehr schnell in eine ausgewachsene Krise verwandeln.
Außerdem werden auf das Team von Sebastian Hoeneß noch Mannschaften warten, die entschlossener zur Sache gehen. Um es mit einem bekannten Fußball-Zitat zu sagen: But can they do it on a cold rainy night uff dr Ostalb? Nach zehn absolvierten Spieltagen kann erst eine Tendenz für die Saison abgeleitet werden. Darauf verwiesen Trainer und Verantwortliche in den letzten Jahren gerne, als der Start weniger erfolgreich verlief. Warten wir also ab, wie viel von dem anfänglichen Schwung im November noch übrig ist.
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reybucanero74
Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson