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AHA-Erlebnis

Wusstet ihr schon, dass Rostock auf dem Weg zur „QualitätsStadt“ ist? Und der Fahrradverleih Warnemünde ihr 21. „QualitätsBetrieb“? Auch die Ostseeküste kann inzwischen Marketing und gehörte diesen Sommer zu den beliebtesten Reisezielen. Völlig zurecht, denn dort gibt es nicht nur leckere Sprotten und tolle Landschaften, sondern die Mecklenburger sind auch immun gegen das Virus. Oder wie erklärt ihr euch, dass die 7-Tage-Inzidenz je 100 000 Einwohner im Landkreis Rostock aktuell bei 2,9 liegt? In Garmisch-Partenkirchen sind es zum Vergleich 55,4.  

Fragt man Markus Söder, den selbsternannten König von Bayern, liegt der Vorsprung bei den Infektionszahlen vor allem daran, dass man mehr teste als irgendwo sonst auf der Welt. Außer natürlich in Trumps Amerika. Zudem sind nicht nur die Bayern, sondern auch die Schwaben einfach ein reiselustiges Völkchen. Ein Sommer ohne Costa Brava, den Partystrand Zrce oder Savoir-vivre an der Côte d’Azur gilt als verlorene Lebenszeit. Wieder daheim teilt man dann neben den traumhaften Urlaubsbildern auch gerne die Viren mit Freunden und Kollegen. Arschgeil isch´s gwä, gugg amol, wie braun i ben.

Nur konsequent also, wenn das Gesundheitsamt Rostock das Ostseestadion zu einem Viertel füllen lässt, während man in Stuttgart noch nicht mal die Zweite in der Regionalliga bestaunen darf, oder? Auch Leipzig und Dresden sind übrigens immun, sagen die dortigen Gesundheitsämter und geben die Fußballparty frei. Und in Berlin kümmert man sich nicht um 7-Tage-Inzidenzen. Nach Bayern liegt die Hauptstadt nämlich mit einem Wert von 14,2 auf Platz zwei, lässt in Köpenick aber fröhlich fünftausend Mann in die Butze. Angesichts dieser gesundheitspolitischen Kakophonie tun die Fußballverbände das, was sie am liebsten tun: mit den Schultern zucken und ans Geld denken.  

Die Überlegung ist ganz einfach. Sehen die Leute erstmal die tolle Atmosphäre mit singenden Fans im Fernsehen, ist der Bann schnell gebrochen, und selbst der bayerische Corona-Sheriff lässt sich zu einem „Probebetrieb“ mit Publikum hinreißen. Die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern fand die Stimmung im Ostseestadion super und twitterte von einem „großen Schritt in Corona-Zeiten“. Kein Abstand, Hygieneregeln my ass, Alltagsmaske vergessen. Deutschland hat sein AHA-Erlebnis.  

Und der VfB? Erfahrene Dunkelrote ahnten im Vorfeld der Erstrundenpartie in Rostock Böses. Ein solider Drittligist mit 7500 ausgehungerten Heimfans im Rücken gegen einen Bundesligaaufsteiger voller Greenhorns. Es roch nach Peinlichkeit, nach Erstrundenaus, mal wieder. Aber am Sonntag zeigte die Mannschaft im Brustring, dass sie im Vergleich zu zahlreichen Auswärtsspielen in der zweiten Liga dazugelernt hat. Hinten konsequent, vorne mit einigen guten Torchancen, von denen Silas die eine abstaubte, die am Ende den Unterschied ausmacht zwischen zweiter Runde und Ausscheiden.

Wir dürfen also durchaus positive Erkenntnisse vor dem Bundesligastart am kommenden Samstag gegen Freiburg notieren. Marcin Kaminski überzeugte als zentraler Mann in der Dreierkette mit seiner Ruhe und Übersicht. Waldemar Anton kann im Aufbau vertikale Pässe spielen, bei denen selbst Holger Badstuber vor Neid erblasst. Der fliegende Endo hat seine Form aus der vergangenen Rückrunde über den Sommer konserviert. Und Sasa Kalajdzic deutete an, welche Komponente er ins VfB-Spiel bringen kann: ein Wandspieler mit klugen Ablagen, fehlen nur noch die hochwertigen eigenen Abschlüsse.

Am besten hat mir aber gefallen, dass die Mannschaft als Einheit auftrat und sich durchbiss. Als nach einer Stunde und der Einwechslung von Ex-VfB II-Goalgetter Pascal Breier plötzlich Hektik ins Spiel kam, ließ zuerst Anton einen Schrei, danach Gregor Kobel. Aus dem eigenen Strafraum signalisierte er seinen Vorderleuten: Wir führen 1:0, lasst uns die Kiste hier souverän runterspielen. Noh nedd huadla! Und siehe da, der VfB bekam wieder mehr Spielkontrolle und einige vielversprechende Kontermöglichkeiten (die sie freilich kläglich vergeigten).

Auf der anderen Seite wurde aber auch deutlich, wo es im Kader klemmt. Silas ist kein Wingback (auch wenn er bemerkenswert viel in der Defensive ackerte) und Massimo fehlt selbst gegen unterklassige Gegner das Durchsetzungsvermögen. Die Außen sind schwach besetzt, keine neue Erkenntnis, aber ein Problem, das uns durch die Saison begleiten wird. Auch die Ballverluste durch Schlampereien im Mittelfeld, die in der zweiten Halbzeit zunahmen, mögen gegen Rostock noch zu verschmerzen sein, gegen Leverkusen kriegst du in drei Wochen pro Fehler ein Tor. In vorderster Front fiel Al Ghaddioui nach seiner Einwechslung ganz schön ab. Und jedes Mal, wenn Castro in Abschlusspositionen kommt, erinnert man sich daran, dass er zwar schon unzählige Ligaspiele auf dem Buckel hat, sich aber nie als Goalgetter einen Namen machte. Nach einem schönen Gegenstoß verzog er in der zweiten Halbzeit aus vierzehn Metern halbrechter Position Richtung Eckfahne. Als einer der drei Offensiven im 3-4-2-1 muss man solche Dinger dann halt auch mal machen. Gleiches gilt für Churlinov, der aus kurzer Distanz am starken Kolke scheiterte.

Nachdem der VfB im März gegen Bielefeld das letzte Spiel vor gut gefüllten Rängen bestreiten durfte, war er sechs Monate später nun auch am ersten Spiel beteiligt, das von der Kulisse her wieder an Fußball erinnerte. Einerseits tut es gut, das Stadion zu hören, andererseits sollten wir trotz aller Pandemiemüdigkeit nicht so denken wie der Mann im Weißen Haus: „I wanted to always play it down. I still like playing it down, because I don’t want to create a panic.“ Auch im bevorstehenden Abstiegskampf und beim VfB insgesamt dürfen wir nicht aufhören, wachsam zu sein. Denn die Erfahrung lehrt: Sonst geht es schneller in den Keller, als wir gucken können.

FC Hansa Rostock – VfB 0:1

Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson

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