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Es gibt 1000 gute Gründe

Exkursion des Erdkunde Leistungskurses in die Provence Anfang der 90er. Im hinteren Teil des Busses versucht der harte Kern erfolglos, einen Jumbo-Müllsack zu verstecken, in dem es verdächtig scheppert. Die kleinen Flaschen „Belle Brasseuse“. Da kommt in einer Nacht ganz schön was zusammen. Zur Ablenkung haben wir eine Kassette zum Busfahrer durchgereicht:

Hohe Berge, weite Täler
Klare Flüsse, blaue Seen
Dazu ein paar Naturschutzgebiete
Alles wunderschön

Die Toten Hosen (aus: Ein kleines bisschen Horrorschau, 1988)

Das perfekte Konzept

Marketing-Spezialisten sind in der Lage, uns eine gefrorene Teigscheibe mit künstlichem Käse als Original-Steinofenpizza zu verkaufen. Oder klebrige Pisse als Kultgetränk, das Flügel verleiht. Oder eben einen genauso löchrigen wie eigennützigen Plan zum Neustart der Bundesliga als überzeugendes Hygiene-Konzept. Es ist eine Frage der Kommunikation.

Wie Carolin Emcke in ihrer SZ-Kolumne treffend beschreibt: Wenn man nur häufig genug öffentlich die Schlagwörter „Konzept“ und „Verantwortung“ platziert, bleibt die Botschaft irgendwann bei den Leuten hängen.

Wir lieben unser Land
Unser Fernsehprogramm, unsere Autobahn
Wir lieben unser Land

Jetzt lieben wir eben unser „Medizinisches Konzept für Training und Spielbetrieb im professionellen Fußball in den Monaten April bis Juli 2020“.

Auf Linie

In erster Linie geht es um Deutungshoheit. Die DFL hat sich hier bei autoritären Staaten das Prinzip der Einstimmigkeit abgeschaut: Wenn nur eine Stimme zu vernehmen ist, kann es keine Misstöne geben. Kleiner Nachteil: Alle anderen müssen mundtot gemacht werden. In diesem Fall die Vereine und Spieler sowie unliebsames Beiwerk, zum Beispiel kritische Fans.

„Zu den Ergebnissen der ersten Covid-19 Tests bei den Clubs der Bundesliga und 2. Bundesliga werden wir (…) eine zentrale öffentliche Kommunikation vornehmen. Wir empfehlen, bis dahin von eigenen Verlautbarungen abzusehen und auf diese zu verweisen.“

Schreiben der DFL an die Bundesliga-Clubs

Die meisten Vereine halten sich an die Empfehlung. Spieler, die eigene Diskussionsbeiträge einbringen (Grüße an Sala Kalou und Birger Verstraete), werden öffentlichkeitswirksam gemaßregelt. Der DFL-Claim geht durch Medien und politische Ausschüsse: Unser Konzept funktioniert. Glaubt nicht euren Augen, euren Ohren und eurem Verstand. Glaubt uns! Denn wir handeln verantwortlich und im Sinne der Gesellschaft.

Der VfB-Vorstandschef folgt ebenfalls brav der vorgegebenen Linie:

„Es sind große Herausforderungen, wir nehmen die alle in Kauf. Wir wissen, dass wir die Chance bekommen, die Rückkehr zu meistern.“

Er wäre jedoch nicht Thomas Hitzlsperger, wenn er sich seinen Profis nicht gleichzeitig als Kummerkasten anbieten würde:

„Wir haben aber auch stets betont, dass wir immer ein offenes Ohr haben, wenn Spieler sich unwohl fühlen, dass sie jederzeit auf uns zukommen können und müssen.“

Ich zweifle nicht daran, dass er sich die Sorgen der Spieler wirklich anhört. Es dürfte aber genauso klar sein, dass der Kommunikationsprofi ihnen im Anschluss mit sorgfältig gewählten Worten erklären wird, was er jetzt von ihnen erwartet: den höchst umstrittenen Plan umsetzen und damit Umsatz generieren. Öffentliche Widerworte unerwünscht. Jeder darf seine Meinung haben, aber nach außen rufen wir im Chor: Endlich geht es wieder los!

Nun kann man sicherlich argumentieren, es sei unfair, einem CEO vorzuwerfen, dass er die wirtschaftlichen Interessen seiner AG vertritt. Von unserem Vorstandsvorsitzenden – einem integren und anerkannten Fußballfachmann, der auch zu vielen gesellschaftlichen Themen eine dezidierte Meinung vertritt – erwarte ich dennoch ein bisschen mehr.

Erinnern wir uns an Hitzlspergers demütige Aussagen bei Amtsübernahme. Er müsse noch vieles lernen, wolle aber die Herausforderung annehmen. Jetzt wäre für den Meisterhelden und ehemaligen NLZ-Leiter der Zeitpunkt gekommen zu beweisen, dass er als Unternehmenslenker die Gefahr einer nachhaltigen Beschädigung des Fußballs erkennt und sich nicht nur von Umsatzzahlen leiten lässt. Als Ex-Nationalspieler und TV-Experte bei Länderspielen müsste gerade er die Überkommerzialisierung des DFB-Teams als warnendes Beispiel vor Augen haben. Mit künstlichen Hashtags und aalglatter PR wird ein fundamentaler Glaubwürdigkeitsverlust eben nur weiter befördert. Ihm muss klar sein: Wenn das System Profifußball krank ist, dann ist es die VfB Stuttgart AG auch.

Was lernt der VfB aus der Krise?

Neben dem Vorstand ist auch der Vereinspräsident zurzeit besonders gefragt. Da Claus Vogt als ehemaliger Vorsitzender des FC PlayFair! eine Vergangenheit als Fanaktivist aufweist, liegen die Erwartungen an ihn besonders hoch.

Im einigermaßen komplexen Machtgefüge des VfB sieht er sich als Bundespräsidenten, Hitzlsperger sei der Bundeskanzler. Geisterspiele bezeichnet er als „Spatz in der Hand“, der ihm lieber sei als gar kein Fußball. Vom Standpunkt seiner ehemaligen Mitstreiter hat er sich damit bereits bemerkenswert weit entfernt. Im Wahlkampf rühmte er sich seiner exzellenten Kontakte in die nationalen Verbände. Sollte er uns Mitglieder dann nicht mitnehmen und uns die umstrittene Strategie der DFL erklären? Bemerkt er die rasch zunehmende Entfremdung des Fußballs von der Basis nicht (mehr)? Bei mir kommt der Verdacht auf, dass beim VfB dieser Tage mehr als nur ein Corona-Test ein unklarer Befund ist.

Immerhin hat sich Vereinsbeiratsmitglied Prof. André Bühler öffentlich geäußert und ein Marktversagen im Profifußball diagnostiziert. Seine Erläuterungen zum so genannten Rattenrennen, das durch überhöhte und letztlich verschwendete Investitionen im sportlichen Überbietungswettbewerb gekennzeichnet ist, lassen erkennen, dass er ein grundsätzliches Problem im derzeitigen Geschäftsmodell des Profifußballs sieht. Inwiefern er damit allerdings im Präsidium und Vorstand durchdringt, steht auf einem anderen Blatt. Die Verantwortlichen wären jedenfalls gut beraten, dieses Thema auf die Tagesordnung zu setzen.

Die Forderung nach mehr Nachhaltigkeit im Fußballbusiness wird immer lauter. Neben wirtschaftlichen Aspekten ist auch die sportliche Strategie betroffen. Hier hat sich der VfB kürzlich im Bereich Nachwuchsarbeit stärker aufgestellt. Thomas Krücken will mit seinem Team regionale Partnerschaften aufbauen, das Scouting-System im Jugendbereich erweitern und den Übergang in die Lizenzspielermannschaft noch stärker in den Fokus nehmen. Diese Entwicklung sehe ich mit Hoffnung, da nur so eine größere Unabhängigkeit vom Transfermarkt möglich ist.

Das Führungsduo Hitzlsperger – Vogt hat grundsätzlich sicher das Zeug dazu, den notwendigen Reformprozess einzuleiten. Fragt sich nur, wann sie endlich aus dem Windschatten der DFL heraustreten.

Wo sind all die ganzen Gründe?

Von der schönen Brauerin noch leicht mitgenommen, versuchen wir im antiken römischen Amphitheater von Nîmes, uns in die Zeit von Panem et Circenses zurückzuversetzen. Abgetrennt von der Gesellschaft lebend sollten die Gladiatoren den Menschen Unterhaltung liefern und Freude spenden.

Es gibt tausend gute Gründe
Auf dieses Land stolz zu sein
Warum fällt uns jetzt auf einmal
Kein einziger mehr ein?

Ähnlich argumentiert heute die Fußball-Lobby. Sie will uns weismachen, dass wir ohne ihr Produkt nicht leben können. Für mich stellt sich dagegen umgekehrt die Frage: Kann ich mich noch mit diesem pervertierten und selbstbezogenen Profigeschäft arrangieren? Und was wird aus unserem geliebten VfB?

1.FC Nürnberg – VfB  (abgesagt)

Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson

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