Cannstatter Beben
In den vergangenen Wochen und Monaten wurde in VfB-Kreisen viel über die sportliche Leitung und die Mannschaft diskutiert. Die Last-Minute-Rettung gegen Köln, gefolgt von einem zähen Saisonstart und einem kurzen Energieschub unter Interimstrainer Wimmer, dann die bleierne Schwere des Labbadia-Fußballs. Nicht wenige kamen zu dem Schluss: Der Truppe mit dem Brustring fehlt die Ernsthaftigkeit und letzten Endes auch die Qualität.
Nach den Siegen in Nürnberg und Bochum sowie dem spektakulären 3:3 gegen den Meisterschaftsanwärter aus Dortmund bekommt die Debatte eine neue Richtung. Angetrieben von seinen treuen Anhängern meldet sich der VfB auf der nationalen Fußballbühne zurück. Der Klassenerhalt und das Pokalfinale in Berlin scheinen plötzlich in Reichweite. Wenn man die fraglos talentierten, aber mitunter an sich selbst und der Welt zweifelnden Profikicker aus Cannstatt richtig anzündet, können sie Eruptionen hervorrufen, wie sie nur an wenigen Bundesligastandorten vorstellbar sind.
Neunzig plus sieben
Fantastischer als ein Märchen, spannender als ein Don Winslow Krimi und kitschiger als die Schlussszene im Bergdoktor – rund 48 000 Zuschauer können am Samstagnachmittag ihren Augen kaum trauen. Auch Sebastian Hoeneß wirkt ziemlich überwältigt. Was geht wohl in dem jungen Trainer vor, wenn er diese unbeschreibliche Energiewelle im Neckarstadion spürt? „Die Leidenschaft, die Spiele drehen kann“, so intensiv war sie bei seinen bisherigen Stationen nicht zu spüren.
Dabei ist das Spiel nach dem Platzverweis für Dinos Mavropanos eigentlich schon mausetot. Die Halbzeitgespräche am Bierstand drehen sich um Schadensbegrenzung und böse Erinnerungen aus der Hinrunde. Die Uhr an der Anzeigetafel zeigt bereits nach 17 Uhr, als ausgerechnet der wilde Tanguy Coulibaly, nicht gerade als Mister Effizienz bekannt, dem Stadion den Glauben zurückgibt und eine rasante Schlussphase einleitet. Mitten in die Meistergesänge des prall gefüllten Auswärtsblocks hinein lässt Silas dann in der 97. Minute das Stadion erbeben.
Mutmacher im Abstiegskampf
Obwohl die Mannschaft von Sebastian Hoeneß auch nach diesem Kraftakt noch tief im Abstiegskampf steckt, könnte von dem erneuten Cannstatter Beben eine Signalwirkung für die restlichen sechs Bundesligaspieltage und das Pokalhalbfinale ausgehen. Punktgleich mit dem Tabellensiebzehnten steht der VfB jetzt wieder auf dem Relegationsplatz. Noch wichtiger aber: Die Mannschaft hat wieder einen offensiven Plan und schießt wieder Tore. Die Namen der Torschützen zeigen einen weiteren Fortschritt: Millot und Vagnoman kommen unter dem neuen Trainer endlich zur Entfaltung, Coulibaly und Silas können ihre Stärken von der Bank aus einbringen. Von den sieben Toren unter Sebastian Hoeneß wurden drei von Einwechselspielern erzielt. Diese unter Labbadia weitgehend brachliegenden Qualitäten machen auf einmal den Unterschied. Nicht auszudenken, wie schwer ausrechenbar die Schwaben wären, wenn auch noch Tiago Tomás zu seiner Normalform fände.
Bevor die ersten angesichts dieser positiven Entwicklungen schon wieder abheben, sollte man auch die Probleme ansprechen, die immer noch sichtbar sind. So wirkt die umgestellte Dreierkette gegen Dortmund nicht so stabil wie zuletzt: Mavropanos leistet sich innerhalb von vier Minuten (35. und 39.) zwei taktische Fouls und geht noch vor der Pause duschen. Zagadou hat im Zentrum längst nicht die Ausstrahlung eines Waldemar Anton, der wiederum als Rechtsfuß auf der linken Innenverteidigerposition Schwächen offenbart. Nach dem Platzverweis funktioniert die Viererkette mit den zentralen Verteidigern Anton (rechts) und Zagadou (links) besser.
Auslöser für die Umstellungen zu Spielbeginn ist der kurzfristige Ausfall von Hiroki Ito aufgrund eines Infekts. Wer hätte im Sommer 2021 bei der Verpflichtung des japanischen Zweitligaspielers gedacht, dass er nicht nur für den VfB unersetzlich, sondern auch zu einer festen Größe in der Nationalmannschaft werden würde? Flinke Angreifer wie Malen oder Adeyemi kann Ito mit seiner guten Antizipation und cleveren Zweikampfführung anders verteidigen als seine wuchtigen Abwehrkollegen.
Verein für Begeisterung
Vor wenigen Tagen vermeldeten die Ticker der Sportportale: Sven Mislintat einigt sich mit Ajax Amsterdam. Dass der ehemalige VfB-Sportdirektor eine neue, interessante Aufgabe gefunden hat, ist ihm von ganzem Herzen zu gönnen und sollte die teilweise hysterischen Diskussionen um sein Wirken und seinen Abgang eigentlich beruhigen. Mitten im Abstiegskampf, an der Schwelle zu einem folgenreichen Absturz ist nämlich nicht der passende Moment, um die Errungenschaften und Versäumnisse amtierender und ehemaliger Führungskräfte zu bewerten.
Falls manche Fans bis gestern geglaubt haben, dass der emotionale Endspurt der vergangenen Saison ohne Mislintat nicht möglich gewesen wäre, werden sie sich nach der spektakulären Aufholjagd gegen Dortmund die Augen reiben. Der nicht einmal seit zwei Wochen am Neckar tätige Sebastian Hoeneß hat es nämlich mit seinem Trainerteam und dem eher spröde wirkenden Sportdirektor Wohlgemuth geschafft, einen neuerlichen Gefühlsausbruch aus der Mannschaft herauszukitzeln.
Die Jubelszenen und Freudensprünge am Spielfeldrand ähneln jenen vom Mai 2022 derart, dass man wohl tiefer graben muss, um die Begeisterungsfähigkeit des so gebeutelten Teams zu begreifen. Der Mythos VfB ist nicht zuletzt dank seiner tiefen Verwurzelung in Stadt und Region weiter am Leben. Gleichzeitig dürfte Herr Mislintat vor dem Bildschirm mit Freude gesehen haben, wie „seine Jungs“ den Dramen der jüngsten Vergangenheit ein weiteres Kapitel hinzufügen.
Die Welle reiten
Nach der schwäbischen Pokalparty in Nürnberg, dem frenetisch gefeierten Auswärtssieg in Bochum und dem sensationellen Comeback gegen Dortmund werden die kommenden Gegner angesichts der weiß-roten Wucht ins Grübeln kommen. In Augsburg darf man sich schon einmal auf eine württembergische Völkerwanderung am kommenden Freitag einstellen. Selbst die für große Pokalnächte bekannte Eintracht wird nach den jüngsten Ereignissen mit einer gehörigen Portion Respekt zum Halbfinale nach Stuttgart reisen. Es scheint so, als habe die Hoeneß-Elf rechtzeitig zum Saisonendspurt eine Welle gefunden, die sie reiten kann.
VfB Stuttgart – Borussia Dortmund 3:3
Zum Weiterlesen:
Der Wahnsinn kehrt zurück – Rund um den Brustring
Der VfB macht mich fertig. Deshalb liebe ich ihn. (vertikalpass.de)
VertikalGIF #VfBBVB: Der ganz normale Wahnsinn – Vertikalpass
reybucanero74
Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson