Was heißt denn hier Spitzenmannschaft?

Mit einem 0:0 gegen Hoffenheim geht der VfB in die dreiwöchige Weihnachtspause. Die Stimmung rund um den Traditionsklub aus Cannstatt ist gut, wenn auch lange nicht so euphorisch wie vor zwei Jahren, als die Mannschaft mehr Punkte holte als jemals zuvor in der Vereinsgeschichte.
Im Mai 2024 erschien an gleicher Stelle ein Text mit der Überschrift „Ein Plädoyer für Behutsamkeit“. Diese behutsame Entwicklung, wie weit ist der Klub damit fortgeschritten?
Variabler Spielstil
Als der ballbesitzorientierte Fußball unter Trainer Hoeneß die Konkurrenz noch zu überraschen vermochte, erspielte sich der VfB zahlreiche hochwertige Torchancen. In dieser Saison tut man sich in der früheren Paradedisziplin schwer. Im Heimspiel gegen Hoffenheim verpuffen die Angriffe meistens schon, bevor der Ball die gefährliche Zone erreicht. Es fehlt an Präzision und Durchsetzungskraft.
Gegen physisch robust auftretende Gegner, die den schwäbischen Drang nach Spielkontrolle schon im Ansatz unterbinden, hat die Mannschaft Probleme. Das ausgereifte Positionsspiel, das dem Trainer vorschwebt, leidet unter dem Eins-gegen-Eins über den ganzen Platz, das nicht nur die Bayern neuerdings gerne spielen. Andererseits ist Spielkontrolle noch lange keine hinreichende Bedingung für Siege, wie zum Beispiel das Europa-League-Duell bei Fenerbahçe gezeigt hat. Gewonnen hat in Istanbul nicht das Team mit der besseren Spielanlage sondern die reifere Mannschaft.
Nachholende Entwicklung
Nach Niederlagen kommt schnell Ungeduld auf. Im Hochgefühl der Vizemeisterschaft haben sich manche Fans eine schnellere Rückkehr in die nationale Spitze erhofft. Der Pokalsieg hat Hunger auf weitere Titel gemacht. Aber Entwicklungsschritte kann man nicht einfach überspringen.
In der laufenden Saison setzt das Trainerteam den Herausforderungen des Spielplans konsequente Rotation entgegen. Nicht 15 Spieler müssen das Format haben, in den drei Wettbewerbe zu bestehen, sondern 25. Hinzu kommt, dass die Gegner das eigene Spielsystem inzwischen intensiv studiert und Gegenmittel entwickelt haben.
Wie alle aufstrebenden Klubs leidet der VfB unter den Abgängen seiner besten Spieler. Guirassy, Anton und Ito zur nationalen Konkurrenz, Woltemade und Millot ins Ausland – doch das Trainerteam konnte die schmerzhaften Abgänge insgesamt gut kompensieren. Aus Lücken im Kader entstehen Chancen für nachrückende Spieler. Hoeneß schafft es immer wieder, junge Spieler auf ein höheres Niveau zu bringen.
Bei all den neuen Herausforderungen sind eine hohe Leistungsdichte im Kader und Flexibilität in der Spielanlage erforderlich. Defizite, die früher von herausragenden Einzelspielern überdeckt wurden, müssen aus der Gruppe heraus behoben werden. Professionelle Nachwuchsarbeit und weitsichtige Transferpolitik sind Säulen einer nachhaltigen Entwicklung, die sich gegen die Ups and Downs des Tagesgeschäfts abhärtet.
Lehrgeld
Echte Rückschläge gab es in dieser Saison nicht viele, dennoch zeigt die Bilanz Schwachpunkte auf. Die Schwaben konnten bislang gegen Mannschaften aus der oberen Tabellenhälfte nicht gewinnen. Aus sechs Spielen holte die Hoeneß-Elf nur zwei Punkte. Auch die 14 Gegentore aus 8 Auswärtsspielen in der Liga sorgen für Stirnrunzeln.
Immer wieder kommt die Frage auf, wie weit der VfB auf seinem Weg zu einer Spitzenmannschaft schon gekommen sei. Wenn man das 0:5 gegen die Bayern zum Maßstab nimmt, fehlt noch eine ganze Menge. Auch in Freiburg (1:3), Basel (0:2) und Hamburg (1:2) offenbarten die Weiß-Roten Schwächen, die nicht zu den eigenen Ansprüchen passen. Eine Spitzenmannschaft gibt keine Punkte ab, wenn sie ein Spiel im Griff hat, und sie lässt sich nicht so leicht übertölpeln.
Beim 2:1-Auswärtssieg in Köln und beim 3:3 in Dortmund zeigte der VfB dagegen die Widerstandskraft, bei den klaren Siegen in Wolfsburg und Bremen die Konsequenz, die man braucht, wenn man sich vorne etablieren will. Phasenweise zirkuliert der Ball geschmeidig durch die eigenen Reihen und auch beim Torabschluss blitzt gelegentlich Entschlossenheit auf.
Streben nach Perfektion
Ballbesitzfußball, Spielkontrolle, taktische Reife, Unabhängigkeit von einzelnen Spielern – was den Entscheidungsträgern beim VfB vorschwebt, ist ein ehrgeiziges Ziel. Im modernen Fußball gab es bisher kaum eine Mannschaft, die alle diese Stärken vereinen konnte. Und diejenigen, die der Vision am nächsten kamen, verfügten über ein schier endloses Reservoir an exzellenten, hochbezahlten Spielern.
Ein Spielertyp, den sich der VfB zurzeit nicht leisten kann. Stattdessen sollen vielversprechende Talente gemeinsam mit dem Klub wachsen. Die Ungeschliffenheit eines Finn Jeltsch – um den 19-jährigen Verteidiger einmal herauszugreifen – bedingt einerseits Fehleranfälligkeit und Leistungsschwankungen, verspricht andererseits aber Gutes für die Zukunft.
Rückschläge sind also systemimmanent, Niederlagen weitere Schritte im Entwicklungsprozess – und der braucht seine Zeit. Spitzenmannschaften entstehen nicht durch Wunschdenken.
reybucanero74
Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson