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Schweißperlen

Man könnte diesen Frühsommertag in Mainz am Rheinufer oder im Schwimmbad genießen, wenn nicht wieder einmal ein Schicksalsspiel für den VfB anstünde. 29 Punkte und Platz 17 stehen vor dem 33. Spieltag für den Verein für Bewegungsspiele auf dem Tableau. Es ist also ordentlich Druck auf dem Kessel.

Als die beiden Mannschaften kurz vor halb vier in die MEWA-Arena einlaufen, treibt die leichte Schwüle erste Schweißperlen auf die Stirn. Vielleicht sind es auch Ausdünstungen der Angst. Weit über den Gästeblock hinaus dominieren Brustringtrikots die Tribünen. Die VfB-Fans lassen ihren Verein an diesem Sonntag genauso wenig im Stich wie in den vorherigen sechzehn Auswärtsspielen der Saison. Belohnt wurden sie bisher erst einmal. 

Zwischen Hoffen und Bangen

Die Atmosphäre im Stadion und die anfängliche Entschlossenheit der Rot-Weißen lassen erahnen, dass die Gastgeber dieses Spiel nicht einfach herschenken werden. Nach 23 Minuten bringt Ingvartsen die Rheinhessen sogar in Führung. Dabei profitiert er von einer erschreckenden Teilnahmslosigkeit der VfB-Hintermannschaft. Gleich sieben Schwarze sind im Fünfmeterraum versammelt, können aber die Ecke nicht verteidigen. Bredlow hat sich nach seiner ungestümen Aktion von letzter Woche offenbar vorgenommen, bei Flanken überhaupt nicht mehr einzugreifen. Jede Hereingabe in den Strafraum löst ein Stöhnen im Gästeblock aus. 

Wer hätte da gedacht, dass ausgerechnet dieser Zitter-Torwart in der zweiten Hälfte zum Garanten für den lebenswichtigen Auswärtssieg wird? Doch in der ersten Viertelstunde nach Wiederanpfiff hängen die Schwaben zunächst ganz schön in den Seilen. Guirassy schimpft wie ein Rohrspatz, weil die Mitspieler ihm den Ball nicht so servieren, wie er es gerne hätte. Meistens enden seine Aktionen ohnehin auf dem Hosenboden, denn er findet auf dem frisch gewässerten Rasen keinen Halt. Ein Auswärtssieg liegt in dieser Phase wahrlich nicht in der Luft.

Führich ist von da Costa und Kohr nicht aufzuhalten. (Foto: Torsten Silz via lkz.de)

Nach einer guten Stunde wechselt Hoeneß den erneut unglücklichen Tomás aus und den Matchwinner ein. Zwei Minuten später führt der VfB. Chris Führich zirkelt einen Eckstoß mit rechts genau auf den Kopf von Guirassy. Dass der ehemalige Paderborner in der 78. Minute auch noch seinen Lieblingstrick zur Vollendung bringt und in der Nachspielzeit Coulibaly das 4:1 auflegt, krönt die Leistung des Jokers, der in einer halben Stunde mehr Torgefahr ausstrahlt als seine Kollegen über 90 Minuten. Es ist kaum zu glauben: Der VfB macht diesmal den Sack zu. Das gab es zuletzt beim 3:0-Heimsieg gegen den 1. FC Köln – dem einzigen Erfolgserlebnis unter Bruno Labbadia.

Im Zeitraffer

Das Spiel in Mainz zeigt die Stärken und Schwächen des Teams um Kapitän Endo im Schnelldurchlauf. Auch wenn das Offensivspiel an allen Ecken und Enden hakt, blitzt stellenweise die individuelle Klasse auf. Ein Endo-Tor, so unorthodox und entschlossen, wie es nur der unermüdliche Japaner zu erzielen vermag. Gleich mehrere Monster-Paraden von Bredlow, der sich im Laufe des Spiels eindrucksvoll von seinen Wacklern aus der ersten Halbzeit erholt. Und nicht zuletzt diese unwiderstehlichen Silas-Sprints über den halben Platz – eher Naturgewalt als echter Fußball.

Silas läuft Barkok vor dem 1:1 davon. (Foto: IMAGO/Jan Huebner via kicker.de)

Auf der anderen Seite stehen haarsträubende Abwehrfehler vor dem Mainzer Führungstreffer, Ideenlosigkeit und Behäbigkeit im Angriffsspiel. Bis Mitte der zweiten Halbzeit hätte wohl jeder im Stadion unterschrieben, dass in den schwarzen Trikots designierte Absteiger am Werk sind. Alleine die Trommeln aus dem Gästeblock erinnern daran, dass das Cannstatter Herz noch schlägt.  

Endspiel gegen Rino

Eigentlich kann man das Heimspiel gegen Hoffenheim am kommenden Samstag nicht als Finale bezeichnen, schließlich geht es für die Gäste aus dem Kraichgau nur noch um die goldene Ananas. Trotzdem muss Sebastian Hoeneß seine Mannschaft wie auf ein Endspiel vorbereiten, denn nur mit einem Sieg ist der direkte Klassenerhalt sicher.

Mit Kramaric, Baumgartner und Bebou hat Matarazzo Kicker im Kader, die jedem Gegner weh tun können. Außerdem möchte der ehemalige VfB-Trainer seinen Ex-Bossen sicher zeigen, dass sie im Oktober einen absoluten Fachmann entlassen haben. Andererseits gibt es beim VfB einige Spieler, die den Fans beim letzten Saisonspiel gerne ein Abschiedsgeschenk machen würden. Sosa und Mavropanos werden den Klub im Sommer wohl genauso verlassen, wie Tomás und Coulibaly. Ob der Kapitän und der Topscorer noch eine weitere Saison im Brustring auflaufen werden, bleibt abzuwarten. An der Mercedesstraße bahnt sich ein größerer Umbruch an.

Nichts zu feiern

Sollte die Mannschaft im zweiten Jahr nacheinander am letzten Spieltag die Klasse halten, werden die Spieler eine Party steigen lassen – so viel steht fest. Den Klubverantwortlichen dagegen dürften in erster Linie Steine vom Herzen fallen. Für sie gibt es nach dieser Saison wirklich gar nichts zu feiern. Eine ganze Reihe von Fehlentscheidungen haben den Klub nämlich erst in diese prekäre Lage gebracht.

Den Damen und Herren aus Vorstand und Aufsichtsrat würde ich im Falle einer erneuten wundersamen Rettung empfehlen, zunächst eine Kerze in der Grabkapelle anzuzünden, um sich bei der angekündigten Saisonanalyse dann an die eigene Nase zu fassen. Beim Traditionsklub aus Cannstatt muss sich grundlegend etwas ändern, wenn man im Mai 2024 nicht wieder um den Klassenerhalt zittern will.

Dass der weiß-rote Anhang feiern kann, hat er schon oft unter Beweis gestellt. „Oh, wie ist das schön“, schallt es nach dem Schlusspfiff durch das Stadion. Der letzte Auswärtssieg in ähnlicher Höhe datiert noch aus Zeiten, in denen der Vorstandschef Konfetti kotzen wollte. Doch das Spiel hat nicht nur die Akteure auf dem Rasen Kraft gekostet. Die Gästefans wischen sich den Schweiß aus dem Gesicht. Oder sind es Tränen der Erleichterung?  

FSV Mainz 05 – VfB Stuttgart 1:4

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Teillieferung – Rund um den Brustring

Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson

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