Misslungene Traumatherapie
Da sage noch einer, Augsburg habe nichts zu bieten. Schon am Hauptbahnhof stellt der Stuttgarter verzückt fest, dass die örtliche Baustelle richtig niedlich daherkommt. Außerdem ist der Fußweg ins Brauhaus kürzer als ein Gleiswechsel auf der heimischen Dauerbaustelle. Wenn man dann bei Kellerbier und Schweinebraten in die Herbstsonne blinzelt, gerät das Trauma vom 20. April 2019 für eine Weile in Vergessenheit. Brauen können sie in Bayerisch-Schwaben und die Ansage in der Straßenbahn ertönt sogar auf Englisch. Naja, nur an der Haltestelle Universität, aber immerhin.
Aufbaugegner
Markus Weinzierl war früher mal das, was sie in Straubing „a feschn Buam“ nennen. Er war auch mal der Shootingstar der deutschen Trainergilde. Inzwischen ist der Lack ab, aber die Bilanz gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber bleibt bemerkenswert: 8 von 10 Duellen konnte er mit seinen Mannschaften gegen den VfB gewinnen.
Während der angeschlagene FCA so etwas wie eine Auferstehung feiert, schleichen die Spieler mit dem Brustring wieder einmal wie geprügelte Hunde aus der WWK-Arena. Torschütze Niederlechner konstatiert nach dem Spiel, seine Mannschaft habe „alles investiert, was man machen muss, damit man ein Heimspiel gewinnt in der Bundesliga“. Davon kann beim VfB an diesem Sonntagnachmittag leider keine Rede sein.
Bruch im Spiel
Wenn das Debakel von Augsburg in den nächsten Tagen in Bad Cannstatt aufgearbeitet wird, muss eine Frage im Mittelpunkt stehen: Warum gibt die Mannschaft ein Spiel aus der Hand, dass sie in den ersten 20 Minuten vollkommen kontrolliert hat?
Die Ausreden, dass mit Mavropanos der beste Stuttgarter der vergangenen Wochen kurzfristig passen muss, dass mit Führich der agilste Akteur der Anfangsphase mit Sprungelenksproblemen ausgewechselt wird, dass seit Wochen wichtige Stützen verletzungs- und krankheitsbedingt fehlen, darf das Trainerteam nicht gelten lassen.
Der Umschwung hat nämlich vor allem damit zu tun, was in den Köpfen der Spieler vor sich geht. Jeder macht plötzlich einen Schritt weniger, die Räume im Mittelfeld werden nicht mehr konsequent geschlossen, kaum einer kommuniziert auf dem Platz.
Mit zunehmender Spieldauer kommt auch noch Verunsicherung dazu und es wird deutlich, dass bei einigen Spielern – zumindest an diesem Tag – die Qualität nicht ausreicht. Und wir sprechen über das Duell gegen den Tabellensechzehnten, nicht gegen eine Mannschaft von einem anderen Stern.
Was nun, Herr Matarazzo?
Der FC Augsburg war vor dem Spiel der Inbegriff einer verunsicherten Mannschaft. Dass sie mit einfachsten Mitteln zu einem verdienten 4:1-Sieg gegen den VfB kommt, muss jedem Sorgen machen, der es mit dem Brustring hält. Vor allem natürlich dem Cheftrainer, der Woche für Woche neue Ausfälle zu beklagen hat.
Wo kann Rino jetzt ansetzen? Zunächst muss er Aufstellung und Taktik an das Personal anpassen, das ihm zur Verfügung steht. Eine Dreierkette macht beispielsweise nur dann Sinn, wenn die beiden offensiv ausgerichteten Schienenspieler Druck nach vorne entwickeln. Vor allem Coulibaly zeigt sich mit dieser Rolle zunehmend überfordert. In der WWK-Arena läuft das Spiel vollkommen an ihm vorbei.
„Ich habe festes Vertrauen in die Spieler, die auf dem Platz stehen und dass wir konkurrenzfähig in der Bundesliga sind.“
Pellegrino Matarazzo nach dem Spiel in Augsburg
Gonzalo Castro war in der vergangenen Saison ein Schlüsselspieler auf der wichtigen Position hinter der Spitze. Für ihn hat Matarazzo bislang noch keinen adäquaten Ersatz gefunden, auch weil er Woche für Woche neue Varianten ausprobieren muss. Es fehlt an Klarheit in den Aktionen und Torgefahr. Von Didavi können wir in dieser Rolle wohl keine entscheidenden Impulse mehr erwarten. Seine auffälligste Aktion hat er in Augsburg bezeichnenderweise am TV-Mikrofon.
Im Angriffszentrum verfügt der Trainer zurzeit über keine bundesligataugliche Option. Man kann die Diskussion führen, ob Mislintat bei der Kaderplanung von Anfang an zu hoch gepokert hat, als er Al Ghaddioui und Sankoh als einzige Kalajdzic-Vertreter vorsah. Nach den verletzungsbedingten Ausfällen ist der VfB jedenfalls auf dieser so entscheidenden Position fast blank. Schlimmer noch: Es ist keine schnelle Abhilfe in Sicht.
Offensivbemühungen des VfB (Symbolbild)
Gegen Bielefeld muss der VfB nun das tun, was die Augsburger am Sonntag schafften: über Kampf und Einsatz Spielkontrolle gewinnen und die Blockaden lösen. Matarazzo wäre gut beraten, elf Spieler auf den Platz zu schicken, die den Anforderungen der Bundesliga mental und spielerisch gewachsen sind. Auch wenn der Cheftrainer nach dem Spiel die Bundesligatauglichkeit seiner Spieler nicht in Frage stellen will: So mancher Beteiligte am Augsburg-Debakel darf für kommenden Samstag wohl einen Sitzplatz buchen.
Raus aus dem Baumarkt
Wir wissen jetzt also, dass die Fuggerstadt durchaus etwas zu bieten hat – außer für den VfB. Noch nie habe ich so viel Zeit während eines Bundesligaspiels außerhalb des Stadions verbracht wie an jenem Samstag im April 2019. Und wer den hässlichen Kasten direkt neben der Autobahn kennt, weiß, dass es schönere Orte zum Verweilen gibt. Statt der erhofften Traumabewältigung bringt der gestrige Ausflug neuen Ärger und die Erkenntnis, dass Baumärkte sonntags zurecht geschlossen sind.
FC Augsburg – VfB 4:1
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reybucanero74
Mein erstes Spiel im Stadion: 1980 VfB – HSV 3:2 (Tore: Müller, Kelsch, Allgöwer) Mein schönstes Stadionerlebnis: 1991 VfB – BVB 7:0 (Allgöwer 2, Sverrisson 3, Walter 2) Meine erste Auswärtsfahrt: 1991 BVB – VfB 0:0 Emotionalster Erfolg: 1992 Deutscher Meister, letzter Spieltag B04 – VfB 1:2 (Tore: Walter, Buchwald) Lieblingsspieler: Helmut Roleder, Asgeir Sigurvinsson